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Punkt acht Uhr morgens dringen eigenartig scheppernde Geräusche aus dem Turm der weissgetünchten Gnadenkirche. Wenn der Glöckner die Gläubigen zur Sonntagsmesse ruft, könnte man glauben, jemand hämmere mit wachsender Ungeduld auf Metallkanister.
Dann öffnen sich die Türflügel des barocken Portals und die wartende Menge quillt in das Innere. Wie überall in Schwarzafrika sind Gottesdienste in der Hauptkirche auf der Insel Moçambique nur bedingt an das europäische Vorbild angelehnt. Vier Stunden lang herrscht ein reges Kommen und Gehen. Spielende Kinder und schwatzende Erwachsene sorgen im Kircheninneren für anschwellenden Lärm, gegen den die portugiesischen Missionsschwestern nur um so wackerer ansingen.
Gegen Mittag leert sich das Gotteshaus allmählich, Frauen mit farbenfrohen Gewändern und Turbanen verabschieden sich von den erschöpften Nonnen und verschwinden in den engen Gassen, die zu ihren Wohnhäusern führen. Wenn die Tropensonne über dem Indischen Ozean am frühen Nachmittag den Kirchplatz zermalmt, wirkt das Zentrum der ersten Hauptstadt Moçambiques auf einer Insel an der Nordküste plötzlich wie ein menschenleerer Ort, der schon längst aufgegeben wurde.
Mit den Schiffen kam der Reichtum . . .
Einsam erhebt sich die Bronzestatue des Navigators Vasco da Gama im Park vor den rotgestrichenen Fassaden des Palastes der Generalkapitäne. Auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung herum hatte der Portugiese 1498 auf der Koralleninsel Zwischenhalt eingelegt. Camoes, der als Verfasser der Luisiaden in die Literaturgeschichte einging, verbrachte auf der Insel ein Jahr. Und auch an den Missionar Franz Xaver, den Apostel des Orients, erinnert ein Denkmal.
Mit Steinen, die an Bord der Karavellen aus dem Mutterland herbeigeschafft wurde, entstanden auf der ein Quadratkilometer grossen Insel Kirchen, Paläste und Festungen nach dem Vorbild der Heimat. Selbst die zinnenbewehrte Festungskapelle Nossa Senhora de Baluarte, die 1521 an der Nordostspitze in spätgotisch manuelinischem Stil errichtet wurde, symbolisierte die Schutzfunktion, die fast allen Gebäuden des Handelskontors zugedacht war: Am Riegel aus vier symmetrisch angelegten Forts, die als uneinnehmbar angepriesen wurden, bissen sich Niederländer, Omani und Franzosen die Zähne aus.
Dass die Kaufleute dem Handel mit Gold, Elfenbein, Gewürzen, Stoffen und später Sklaven ordentliche Umsätze verdankten, zeigen unvergleichliche Baudenkmäler, die man sonst in ganz Moçambique vergeblich sucht.
Mitte des 19. Jahrhunderts dehnte Portugal auf der Suche nach Rohstoffen seinen Einflussbereich auf dem Festland bis zu den Flüssen Sambesi und Limpopo aus. Der Inselort, bis dahin nur eine Etappe auf dem Weg nach Indien, wurde Hauptstadt von Portugiesisch-Ostafrika. Aus dieser Zeit stammt der Grundriss aus engen, gewundenen Gassen, die in breite und gradlinig verlaufende Strassen und Plätze einmünden.
. . . und mit der Eisenbahn ging er wieder
Blieb die Insel mit der Steinstadt lange nur Weissen vorbehalten, durften seit dem 19. Jahrhundert Inder aus den Besitzungen in Goa, Arabischstämmige und Bantus vom Festland zuziehen. Sie errichteten auf der Südseite als Gegenentwurf zur durchgeplanten Siedlung der Europäer eine afrikanische Lehmstadt. Zu ihren Glanzzeiten lebten nie mehr als 5.000 Menschen in den einzelnen Quartieren der Stadt, die sich nicht mehr vergrössern liess. Das wurde ihr zum Verhängnis: 1898 erhielt Lourenço Marques, das heutige Maputo, die Hauptstadtwürde, von dort aus baute man die Eisenbahnlinie.
Nach dem Umzug der Kolonialverwaltung wurde der Inselstadt auch ihre Funktion als Provinzhauptort aberkannt. Als 1951 der neue Tiefseehafen auf dem Festland in Nacala seinen Betrieb aufnahm, verlor sie ihre ökonomische Rolle. Nach dem Freiheitskrieg strich die Kolonialarmee 1975 die Flagge und kehrte mit einer Viertelmillion Portugiesen in die Heimat zurück.
Nach der Unabhängigkeit wurden alle Gebäude verstaatlicht, sozialistischen Gepflogenheiten getreu wies die Regierung Familien Wohnraum zu. Während des Bürgerkrieges, der erst 1992 zu Ende ging, waren Tausende von Menschen zu ihren Verwandeten und Bekannten auf der Ilha geflüchtet. Sie hatten keinen Bezug zum architektonischen und künstlerischen Erbe der Portugiesenzeit und nützten die kunstvoll geschnitzten Türen als Brennmaterial, die grössten Balken fanden als Bug für die Fischerboote neue Verwendung. Fischfang ist für die Inselbewohner die einzige Einnahmequelle und selbst Knaben, die eigentlich in die Schule gehen sollten, müssen mit anpacken.
Seit 1978 verbindet eine vier Kilometer lange Brücke die Insel mit dem Festland. Mit ihrer Silhouette aus Kirchtürmen, Festungsmauern und Palästen wirkt die Steinstadt wie ein Geisterschiff, das führungslos im Ozean treibt. Rui Knopfli, der bekannteste Inseldichter, beschrieb die Baudenkmäler einmal als Ergebnis eines "rauen Wettstreits zwischen Wind und Sand".
Vier Fünftel der Bausubstanz sind verloren
Heute liegen die gepflasterten Strassen, auf die man in der Steinstadt so stolz war, unter einer dicken Sandschicht begraben. Sie führen vorbei an verwitterten Arkadenhäusern und einstmals stattlichen Gebäuden mit eingebrochenem Dach. Holzgerüsten bewahren ihre Fassaden vor dem Einsturz. An etliche Handelsgebäude erinnern nur noch Trümmerberge. Als die Behörden vor zwei Jahrzehnten ein Inventar der historischen Substanz aufstellten, kam man auf 200 Altstadtgebäude. In 40 Häusern sind Geschäfte, Schulen, Krankenstationen und Behörden untergebracht, zehn einigermassen gepflegte Gebäude dienen als Kirchen und Museen, darunter der ehemalige Gouverneurspalast, in dessen Zimmerfluchten Möbel, Porzellan und europäische Gemälde Glanz und Grösse der Inselstadt erahnen lassen. Die übrigen Gebäude der Steinstadt, sind in Teilen noch bewohnt, für ihren anhaltenden Zerfall bringen die Einheimischen kaum mehr als Indifferenz auf. Rund vier Fünftel der historischen Bausubstanz auf der Ilha, eine der Welterbestätten auf der Unesco-Liste, sind nach Ansicht von Denkmalschutzexperten unwiderruflich verloren.
Durch die Verschmelzung arabischer und arabischer Formensprachen mit den Kunststilen der einheimischen Bantu und der Portugiesen hatte sich auf der Insel ein eigenständiger Stil entwickelt. Baumaterial und Farbgebung verhalfen der Stadt zu einem einheitlichen Erscheinungsbild. "Orient, aus dem Ozean aufgetaucht", nannte der Dichter Alberto de Lacerda seine Heimatinsel einmal treffend. Während sich die Zeugnisse dieser multikulturellen Gesellschaft allmählich in Staub auflösen, spiegeln die Gesichter der Bewohner und ihre Bräuche eine verblüffende ethnische Vielfalt wider.
Andere erwachen gerade aus der Lethargie
Dagegen verglich Pierre Loti die ehemalige Hauptstadt Französisch-Westafrikas, Saint-Louis du Sénégal mit einer "trägen Schönheit", die hinter den Mauern in einen Dornröschenschlaf gesunken war. Vom Kontinent aus betrachtet, wirkt die Kolonialstadt mit ihren weissen und ockergelben Fassaden frühmorgens noch immer wie auf Darstellungen des 19. Jahrhundert. Auf Schachbrettgrundriss erbaut, erstreckt sich die erste Hauptstadt von Senegal auf einer Insel zwischen zwei Armen des Senegalflusses im Norden des Landes nahe der Grenze zu Mauretanien.
Auch Saint-Louis ist Weltkulturerbe und seither scheint ein Ruck durch die Stadt gegangen zu sein. Presslufthämmer und Betonmischmaschinen auf den Trottoirs liefern eine nervaufreibende Geräuschkulisse, die in den Ohren vieler Bewohner allerdings wie Zukunftsmusik klingt. Überall werden Häuser renoviert, "den Menschen ist endlich bewusst geworden, dass auch sie an der Rettung ihrer Stadt mitwirken können", versichert Amadou Cissé, Leiter des städtischen Tourismusamtes.
Das sind in der Tat neue Töne in diesem Ort, der Hauptstadt von Französisch-Westafrika, Mauretanien und Senegal war. Nachdem Dakar Saint-Louis 1958 abgelöst hatte, fiel die Stadt am Delta des Senegal in Lethargie. Nur offizielle Gebäude wurden renoviert, private Wohnhäuser blieben meist ihrem Schicksal überlassen.
Der Aufstieg zum wichtigsten Handelsort und Verwaltungssitz des Kolonialreiches begann im 18. Jahrhundert. Geschäfte mit Kautschuk, Baumwolle, Kaffee und Kakao, später Sklavenhandel, liessen die Stadt reich werden.
Mitarbeiter im Dienst der Compagnie verpflichteten sich für zwei Jahre und bezogen Quartier in zwei- bis dreistöckigen Wohnpalästen. Balkone aus Holz oder Schmiedeeisen zierten die oberen Etagen der mit kühlen Innenhöfen versehenen Gebäude, hölzerne Fensterjalousien schützten vor der Sonne. Im Erdgeschoss waren Geschäfte untergebracht.
Kaufleute, vor allem aus der Region Bordeaux, drängten seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Brückenkopf Saint-Louis aus in den Kontinent hinein. Ihr Interesse galt Kautschuk, Bodenschätzen und Erdnüssen, für die weiter im Süden riesige Plantagen nötig waren.
Kulturelle Infrastrukturen aus dem 19. Jahrhundert
Um die heftiger werdenden Zusammenstösse mit den Mauren und Toucouleur zu beenden, brauchten sie einen starken Mann. Paris schickte 1854 General Louis Faidherbe, der Frankreichs Herrschaftsbereich ausdehnte. Faidherbe verband den Kern mit den Fischervierteln auf dem Kontinent und auf der Halbinsel Langue de Barbarie zwischen Altstadtinsel und Atlantik. Für den Handel und zum Schutz der Stadt vor Hochwasser wurde die gesamte Insel mit einem System von Kaianlagen mit Lagerhäusern umgeben.
Zimmerleute, Schreiner, Juweliere und Silberschmiede verbreiteten die typischen Architektur- und Kunsthandwerkstile der Stadt in ganz Westafrika. Damals durfte sich Saint-Louis als kultureller und geistiger Mittelpunkt betrachten. Bis heute sind die Intellektuellen stolz auf ihre Museen und das Kulturangebot, darunter das sommerliche Jazzfestival.
Das ist jedoch eher ein schwacher Trost für den politischen Bedeutungsverlust: noch vor der Unabhängigkeit 1960 war der Beschluss gefallen, Dakar zur neuen Hauptstadt zu erheben. Das löste 1958 einen Aufstand aus. Autos brannten, Einwohner schwenkten die französische Trikolore und forderten den Anschluss an Frankreich.
Zum simplen Provinzhauptort degradiert, büsste Saint-Louis sogar bei den eigenen Bewohnern alle Attraktivität ein. Wer es sich leisten konnte, zog nach Dakar, verkaufte zuvor sein Elternhaus oder liess es leer stehen. Schon wenige Jahre nach der Unabhängigkeit schlug die Denkmalpflege Alarm: Der historische Kern war überbevölkert, zu viele Menschen lebten in den noch bewohnbaren Teilen von Gebäuden, die eher Ruinen glichen. Erst 1983 lag ein erster umfassender Rettungsplan vor, er scheiterte am Mangel von Finanzen und Fachleuten.
Gemäss der 1997 gesetzlich beschlossenen Dezentralisierung fällt auch die Denkmalpflege der eigenen Stadt in die Zuständigkeit der Kommunen. Diese Regelung steht allerdings gegenwärtig nur auf dem Papier. Es fällt der nach französischem Vorbild geschaffenen Zentralverwaltung in Dakar noch immer schwer, die nötigen Vollmachten und Finanzen abzutreten.