Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die israelische Regierung ein Tabu brechen wird müssen, das innenpolitisch schwerwiegende Konsequenzen haben kann: die Umsiedlung jener | Siedlungen, die sich nach dem Rückzug aus 1967 besetzten Gebieten nun als Enklaven zwischen palästinensischen Autonomiegebieten befinden.
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Die Diskussion in der israelischen Öffentlichkeit setzte prompt nach Umsetzung der ersten Phase des Wye-Memorandums ein. Ein Artikel in der großen Tageszeitung "Jediot Acharonot" hat das
Tabu gebrochen: Seit dem Rückzug Israels entsprechend dem Wye Memorandum liegen die jüdischen Siedlungen de facto als Enklaven im Gebiet der Palästinensischen Autonomiegebiete, nur mehr durch von
Israel kontrollierte Straßen miteinander und mit israelischem Territorium verbunden. Jeder Blick auf die politischen Landkarten des Westjordanlandes zeigt, daß gewaltsame Konflikte zwischen jüdischen
Siedlern und arabisch-palästinensischen Nachbarn im Alltag vorprogrammiert sind. Dieser Alltag bedeutet für die Siedler Leben wie in einem Tigerkäfig · nur daß hier die Gefahr außerhalb gesehen wird.
Die Befestigung der jüdischen Siedlungen mit einer modernen Art von Stadtmauern aus Beton, hohen Zäunen und Wachtürmen trägt nicht zum Komfort bei. Einkaufsfahrten, ein Besuch eines Kinos, Theaters
oder der tägliche Schulweg für die Kinder bergen das Risiko, von nicht siedlerfreundlichen Palästinensern angegriffen zu werden. Israelische Regierungspolitiker versprechen zwar in Feiertagsreden,
daß man die Siedlungen nicht allein lassen werde. Dennoch scheint klar, daß diese Versprechen auf Dauer nicht einhaltbar sind. Der Tabubruch, nämlich die Aufgabe jüdischer Siedlungen in
zurückgegebenem Gebiet, hat auch schon einen Vorläufer: nach dem Friedensvertrag mit Ägypten hat der heutige Außenminister Ariel Scharon die Auflösung jüdischer Siedlungen im Sinai vorbildlich
administriert.
Den Siedlern allein die Schuld an ihrem Los zuzuschieben, wäre freilich falsch. Alle israelische Regierungen nach 1967 haben die jüdische Besiedelung der zwar besetzten, aber nicht formal
annektierten Gebiete im Westjordanland gefördert. Es ging darum, mit Menschen Fakten zu setzen, die in späteren Verhandlungen schwer vom Tisch zu wischen wären. Und nun, mehr als 30 Jahre danach,
gibt es auch schon mehr als eine Generation, die in diesen Gebieten Geburts- und Heimatrecht anmelden kann. Es ist auch keineswegs so, daß alle Siedler aus religiöser Überzeugung oder aus säkularen,
zionistischen Motiven in diese Regionen gezogen sind. Tatsache ist, daß eine große Zahl von mittellosen Neueinwanderern in diesen 30 Jahren eine Chance genützt haben, in den besetzten Gebieten eine
staatlich besonders stark geförderte Existenz aufzubauen. Wäre es ihnen finanziell möglich, lebten sie lieber in der urbanen Küstenregion am Mittelmeer.
Die politischen Führer in den 30 Jahren seit 1967 müssen sich heute mit der Verantwortung auseinandersetzen, zehntausende Menschen in eine wenig lebenswerte Gegenwart hineingelockt zu haben. Die
Siedler haben ihre Aufgabe erfüllt: ohne ihre Präsenz im Westjordanland hätte Israel schwerlich Argumente, nicht das gesamte 1967 besetzte Gebiet zurückzugeben. Und · wie das ein Kommentator in
"Ha'aretz" formulierte · ohne den Druck durch die massive Siedlertätigkeit in den besetzten Gebieten, würden die Araber möglicherweise bis heute das Existenzrecht Israels leugnen und
Friedensverträge wie die mit Jordanien und Ägypten wären vielleicht niemals zustande gekommen. Es sei daher auch die Verpflichtung der israelischen Politiker, Auswege zu finden. Die Idee, die nun
erstmals in der israelischen Öffentlichkeit diskutiert wird, sieht eine Verlagerung aller jüdischen Siedlungen in die Nähe der Waffenstillstandszone, der sogenannten "Grünen Linie" , aber immer noch
auf autonomem palästinensischen Gebiet vor. Konkret wird von drei dicht besiedelten Blöcken gesprochen, in denen alle Siedler, die in den Gebieten bleiben wollen, zusammengefaßt würden und die dann
auch annektiert werden sollten. Wer ganz aus dem palästinensischen Gebiet hinauswolle, sollte großzügige finanzielle Kompensationen erhalten.
Es ist vorauszusehen, daß diese Gedanken heftige innenpolitische Kontroversen auslösen werden. Aber der Damm für die offene Diskussion über die Zukunft der Siedlungen im Westjordanland ist gebrochen.