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Lokalaugenschein bei einem Gespräch zur Wiener Charta in Ottakring.
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Wien. Über Hundstrümmerl wurde nicht geredet. Auch nur sehr wenig über Kinderwägen. Selbst das Thema Integration wurde nur leicht touchiert. In der Gebietsbetreuung Ottakring hat am Mittwochabend das erste von drei Gesprächen zur Wiener Charta stattgefunden - und es kam alles anders als erwartet.
Das Mitte März von der Stadt Wien ins Leben gerufene Bürgerbeteiligungsprojekt Wiener Charta befindet sich derzeit in der zweiten Phase: Nach einer ersten Themensammlung werden nun Charta-Gespräche zu den drei Hauptthemen "Miteinander auskommen", "Nicht immer dasselbe" und "Aufgeräumt wohlfühlen" abgehalten. Jeder Interessierte kann ein Charta-Gespräch organisieren - die Stadt stellt Moderatoren zur Verfügung. Die Ergebnisse der Gespräche werden dann auf der Website der Charta veröffentlicht, wo bis Oktober darüber diskutiert werden soll, bevor der endgültige Charta-Text entsteht.
Das Interesse an den Gesprächsgruppen ist jedenfalls groß: Bisher haben Wien-weit mehr als 50 stattgefunden, rund 150 weitere wurden angemeldet. Im 16. Bezirk wollten die Volkshochschulen Ottakring und Hernals in Kooperation mit der Gebietsbetreuung eine offene Gruppe ins Leben rufen, bei der sich jeder zu Wort melden kann. Zu diesem Zweck lud man in eine Baulücke beim Brunnenmarkt. Mag es nun am schlechten Wetter gelegen haben, das eine Verlegung in die Räume der Gebietsbetreuung nötig machte, oder am Vorfeiertag: Die offene Gruppe mutierte beim Lokalaugenschein der "Wiener Zeitung" zu einer geschlossenen Gesellschaft von Mitarbeitern der Volkshochschulen und der Gebietsbetreuung - was allerdings der Diskussionskultur zum Thema "Umgangsformen im Alltag" keinen Abbruch tat.
Im Gegenteil: Offen und ehrlich wurden Probleme angesprochen.
Ruf nach Rücksichtnahme
Ein großes Thema war dabei die Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln: "Ich erwarte mir ein Minimum an Empathiefähigkeit - dass die anderen mitbekommen, wenn ich mit einem Kind und zwei Sackerln in die U-Bahn steige und mir vielleicht helfen", sagte eine Teilnehmerin.
Während bei diesem Thema naturgemäß sofort Einigkeit erreicht werden konnte, führte eine andere Frage zu verbalen Auseinandersetzungen: Das Essen in den Öffis. Während sich die einen über die Geruchsbelästigung, die etwa durch eine Leberkäsesemmel ausgelöst wird, echauffierten, plädierten die anderen für die Freiheit des Einzelnen. "Menschen riechen, eine Stadt riecht, da sollte man nicht so heikel sein", sagte etwa eine Teilnehmerin. Ein anderer konterte: "Der Geruch der Menschen genügt, jeder darf in die U-Bahn einsteigen, aber die Leberkäsesemmel muss er draußen lassen." Für ein Verbot von Nahrungsaufnahme in den Öffis, wie es 2009 debattiert wurde, plädierte aber keiner.
Ähnlich kontrovers verlief die Debatte über die Aufteilung des öffentlichen Raums. So beklagten zwei Teilnehmerinnen, dass sie sich durch Männergruppen, die in der Nacht vor Wettlokalen herumstehen, belästigt fühlen. Oft würden die Männer partout nicht Ausweichen oder launige Sprüche zum Besten geben.
"Entfesselung nötig"
"Das ist nicht bedrohlich, aber es ist unangenehm", lautete der Tenor. Frau könne da ja einfach deutlich kontern -dies sei auch ein wichtiger pädagogischer Akt, war die Antwort. Muss sie das aber? Oder müsste man sich nicht eher von der Gruppe erwarten können, Frauen nicht als Objekte zu behandeln? Diese Frage konnte trotz heftiger Debatte nicht geklärt werden. Ähnlich wie die Frage, ob übermäßiger Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit anderen Menschen zumutbar ist. Eine These: "Der öffentliche Raum braucht ein wenig Entfesselung, woran willst Du dich sonst reiben?"
Am Ende des Diskussionsprozesses stand die gemeinsam formulierte Forderung nach Zivilcourage, Respekt und Vielfalt, die nun auf der Website der Charta gepostet werden.
Das Resümee der Teilnehmer fiel positiv aus: Dass man quasi "unter sich" geblieben ist, habe der Sache keinen Abbruch getan, sagte Ilkim Erdost, Direktorin der VHS Ottakring. "Schließlich diskutieren wir normalerweise nicht über dieses Thema". Andrea Wagner-Staritz, Leiterin der VHS Hernals sprach von einer Art Coachingprozess: "Zunächst darf man über den Ist-Zustand schimpfen und dann geht es darum, wie man es besser machen kann." Barbara Jeitler von der Gebietsbetreuung Ottakring zeigte sich erfreut über den "neuen Zugang zu den Konflikten in der Stadt" - man versuche nicht mehr, diese über mehr Kontrolle zu lösen, sondern über Kommunikation. Vielleicht kommunizieren am Mittwoch ja Menschen "von der Straße" mit.