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Konditionierung statt Aufklärung

Von Karl Kollmann

Reflexionen
Selbstbestimmt soll der Konsument sein, nicht Marketing-Opfer.
© fotolia.com/worawut

Jahrelang führend im Konsumentenschutz, bewegt sich Österreich heute im EU-Gleichschritt.


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In Europa hat sich das Politikfeld Konsumentenschutz (bzw. Verbraucherpolitik) spät, nämlich erst ab den 1960er Jahren entwickelt - also vierzig Jahre nach den USA. Klar, das hat mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun und mit den zwei Weltkriegen, die in Europa verheerende Schäden hinterlassen hatten. Hierzulande hat die Arbeitnehmerseite der Sozialpartner, insbesondere die Kammer für Arbeiter und Angestellte, das Thema aufgegriffen und entwickelt.

Für Beratungs- und Informationsaufgaben wurde 1961 der Verein für Konsumenteninformation (mit der Zeitschrift "Konsument") gegründet und von den Sozialpartnern sowie der Republik jahrzehntelang getragen, heute haben sich bis auf die Arbeiterkammer und das Sozialministerium alle anderen verabschiedet. Die in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sozialpartnerschaftliche Aushandlungsform hat ebenso den verwaltungs- und zivilrechtlichen Konsumentenschutz betroffen. Ergebnisse waren damit zwar immer etwas mühsam zu erreichen, aber auf lange Sicht hatte das zu guten, kontinuierlichen Fortschritten geführt.

Emanzipationspolitik

Konsumentenschutz bzw. Verbraucherpolitik wurde dabei nicht nur als Schutz des unbedarften Konsumenten vor unseriösen Geschäftspraktiken gesehen, sondern hatte eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Komponente.

Unbestritten ist, dass der bildungs- und einkommensmäßig benachteiligte Teil der Bevölkerung einen besonderen Schutz gegen wirtschaftliche Ausbeutung braucht. Aber es geht außerdem, bei allen Konsumenten, um Sicherheit vor werblicher Manipulation, um Mitbestimmung beim Güterangebot selbst (etwa Langlebigkeit oder Ethik bei der Herstellung) sowie um umfassende statt nur unvollständige Informationen zu den beworbenen Produkten. Selbstbestimmt soll der Mensch als Konsument sein, nicht Opfer eines immer stärker um sich greifenden Marketings.

Eine zunehmend neoliberale Haltung in allen politischen Parteien ab den späten 1980er Jahren und dann der Beitritt Österreichs zur EU haben die erwähnte gesellschaftspolitische Komponente der Verbraucherpolitik relativ rasch gekappt. Wurden in den 1980er Jahren noch eine Werbesteuer (zur verursachergerechten Finanzierung der Verbraucherarbeit), Konsumentenbeiräte in Unternehmen oder etwa ein Importverbot für Produkte aus Kinderarbeit diskutiert, war infolge des EU-Beitritts mit solchen Überlegungen Schluss. Konsumentenschutz war jetzt in erster Linie eine europäische Aufgabe.

Als mit dem Vertrag von Maastricht 1992 Konsumentenschutz-Themen zur europäischen Angelegenheit wurden, haben sich viele Konsumentenschützer gefreut - endlich wird man ernst genommen! Jetzt wird alles müheloser werden, das war eine verbreitete Meinung. Es war eine grandiose Fehleinschätzung. Es gibt zwar auf europäischer Ebene eine Verbrauchervertretung, das ist die BEUC, eine Organisation der Verbraucherorganisationen der EU-Mitgliedsländer, bestehend aus 44 Mitarbeitern. Ihre "Schwester", die ANEC, die sich ausschließlich mit Normung beschäftigt, verfügt über zehn Mitarbeiter.

Diese beiden haben mit rund 20.000 Wirtschaftslobbyisten zu tun; jedem Einzelnen stehen also 370 von der anderen Seite gegenüber. Bei der Brüsseler Adminis-tration gehen Minderheiten üblicherweise unter - in Österreich war man diesbezüglich eine andere Parität gewohnt. Da stand die Konsumentenseite der Unternehmensseite gegenüber, egal wie viele Personen sich in Verhandlungsrunden versammelten.

Inhaltliche Selbstzensur

Das personelle Missverhältnis ist ein gravierendes Problem, das zweite liegt im Grundgerüst, oder wenn so mag: im grundsätzlichen Geist der EU-Bürokratie. Nur "realistische" und pragmatische Vorhaben werden in den Brüsseler Institutionen akzeptiert. Wenn man nicht errät, was der anderen Seite zumutbar ist, handelt man sich schnell den Vorwurf ein, "Fantast" zu sein. "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen" - dieser Satz wird Helmut Schmidt zugeschrieben. In Brüssel jedoch denken alle so. Langfristige gesellschaftspolitische Vorhaben werden von den Eurokraten und den Industrievertretern nicht ernst genommen und meist nicht einmal verstanden.

Das hat Folgen, insbesondere für Verbrauchervertreter. Sie fallen zuerst in einen Modus der Rücksichtnahme und Anpassung, schließlich wollen sie respektiert und von den anderen Beteiligten am EU-Parkett nicht als kleine, lästige Kasperl wahrgenommen werden. Das lernen nationale Konsumentenschützer schnell, wenn sie sich auf europäische Ebene begeben wollen.

Langfristige oder etwas radikalere Positionen zu vertreten, verbietet sich mithin. Auf diesen Modus der Rücksichtnahme folgt über kurz oder lang die inhaltliche Selbstzensur. Genau hierin liegt der wesentliche Grund dafür, dass auf EU-Ebene, und das betrifft übrigens alle Politikbereiche, substanziell wenig vorangeht.

Tatsächlich findet mittlerweile praktisch alle Verbraucherpolitik in Brüssel und zwischen seinen eher demokratiebefreiten Institutionen, etwa dem handzahmen EU-Parlament, einem demokratiepolitisch bedenklichen EU-Rat und der mit vielen Privilegien ausgestatteten EU-Kommission statt. Trotz dieser höchst Lobbyismus-gefährdeten Struktur und langwieriger Verfahren bringt die EU mitunter dennoch etwas für Verbraucher zustande, etwa den Entfall der Roaming-Gebühren im EU-Europa, beim Telefonieren und Surfen mit dem Smartphone.

Wichtig war das den EU-Akteuren, da sie selbst davon betroffen waren, etwa wenn sie als spanischer Abgeordneter mit dem privaten Handy in Belgien telefonieren wollten. Von diesem Ärgernis nach langen Jahren erlöst, dürfen nun überall in der EU Menschen im Urlaub sich zu Inlandsgebühren mit den Banalitäten sozialer Netzwerke volllaufen lassen. An sich eine kuriose Angelegenheit. Aber selbst solche Dinge benötigen viele, viele Jahre, um sie den europäischen Bürgerkonsumenten als "Leuchtturmprojekt" darbringen zu können.

Rechtsberater-Industrie

Von der vor Jahren in Angriff genommenen Initiative der EU-Parlamentarier, die sich über die drei in Europa üblichen, unterschiedlichen Stecker-Steckdosen-Systeme geärgert hatten (in Großbritannien brauchten die reisefreudigen Abgeordneten immer Zwischenstecker), die sie durch ein viertes, im Zeichen der Einheit stehendes "EU-System" ersetzen wollten, konnte man sie, wegen der hunderte Milliarden teuren Kosten der Umrüstung für die Verbraucher, im letzten Moment noch abhalten.

Vieles andere wird wenig optimal, jedenfalls stets kompliziert und damit für Durchschnittsbürger völlig undurchschaubar geregelt. Darüber freut sich die Rechtsberater-Industrie, so viel ist sicher. Die Qualität vieler Produkte am Markt wird heute nicht, wie es jahrhundertelang üblich war, vom alten Nationalstaat kontrolliert, sondern von kommerziellen Einrichtungen zertifiziert.

So schafft man Verdienstquellen für Unternehmen. Wenn das nicht geht, macht man alles komplizierter. Ein praktisches Beispiel: die Einhaltung der Füllmengen in den vielen Fertigpackungen, die es heute gibt - egal ob Ketchup, Essiggurken oder Kaffee -, ist für Konsumenten eine wichtige Angelegenheit.

Österreich hatte vor den Zeiten in der EU eine Mindestfüllmengenvorschrift. Mit der EU ist es eine sehr schwer, weil aufwendig zu vollziehende Durchschnittsmengenvorschrift geworden. Früher gab es bei einer "unterfüllten" Packung eine Verwaltungsstrafe, und ganz früher stand man dafür am Pranger. Heute muss die Behörde, die die korrekten Füllmengen überwachen soll, eine umfangreiche Stichprobe nehmen und nach komplizierten Verfahren daraus den Durchschnitt bestimmen. So kann man Vollziehung spielend lahmlegen.

Verhaltenssteuerung

Verbraucherforschung, die Grundlagen für Konsumentenschutz erarbeiten soll, hatte einen Höhepunkt in den 1980er Jahren und ist dann langsam erodiert. Hier bahnt sich ein neuer Aufschwung an, so hat es den Anschein. Evidenzbasierte Forschungsergebnisse (am besten naturwissenschaftlich und mit Gehirnscans gewonnen) sowie verhaltensökonomische Einsichten erfreuen sich eines neuen Wohlwollens auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene. Genauer betrachtet heißt das, dass der Behaviorismus, das alte psychologische Reiz-Reaktions-Modell des Menschen, zurückkehrt, denn Verhaltensökonomie ist grundsätzlich nichts anderes als alte behavioristische Psychologie der 1950er Jahre.

Damit arbeitet die Forschung einer sozialtechnologischen Politikgestaltung zu, sie hat keinen emanzipativen Charakter mehr wie noch in den 80er Jahren. Anstelle von Vorschriften will der Staat nun mit Verhaltensanreizen Menschen zu bestimmten Aktivitäten verleiten. "Nudging" (ein niedliches Anstupsen) heißt das Zauberwort, mit dem sich eigensinnige Individuen in die gewünschte Richtung bewegen ließen. Etwa mit grünen Fußabdrücken auf dem Boden im öffentlichen Raum, die zu den Mistkübeln führen; indem man Menschen über den niedrigeren Energieverbrauch ihrer Nachbarn informiert; oder dadurch, dass man gesetzlich alle Bürger zu Organspendern macht, wobei man individuell mühselig wiedersprechen muss, wenn einer das nicht will. Das funktioniert gut und ist übrigens geltendes österreichisches Recht.

Anstelle von Aufklärung und Bildung heute also Konditionierung, Verhaltenssteuerung durch ein freundliches, paternalistisches Staatswesen, der Staat als gigantische therapeutische Einrichtung für seine Bürger? Diese finden das sogar gut, in Deutschland ist die Mehrheit für "Anstupsen". Der US-Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch hat vor solchen Entwicklungen schon in den 1970er Jahren gewarnt.

Karl Kollmann, geboren 1952, promovierter Soziologe und habilitierter Ökonom, Schwerpunkte: Haushaltsökonomie, Verbraucherforschung; viele Jahre in der österreichischen und europäischen Verbraucherpolitik tätig.