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Königsdisziplin Rosenweihrauch

Von Stefan May

Reflexionen

Im oberösterreichischen Bad Kreuzen wird die Traditionelle Europäische Medizin gepflegt, die sich als heilsame Ergänzung zur modernen Schulmedizin versteht.


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Das Räuchern ist ein wichtiger Bestandteil der traditionellen Medizin.
© Foto: Kurhaus Bad Kreuzen

Noch vor Beginn meines Aufenthalts war ich gefragt worden, ob ich Interesse an einem Aderlass hätte. Ob der mittels Blutegel vorgenommen werde, fragte ich ängstlich zurück. Nein, nein, wurde ich rasch beruhigt. Das wäre wie Blutspenden. Jeweils in den ersten sechs Tagen nach Vollmond werde Aderlass im Kurhaus angeboten.

Also doch esoterisch, dachte ich. Das aber wird an Ort und Stelle, im "1. Zentrum für traditionelle europäische Medizin", dem Kurhaus der Marienschwestern in Bad Kreuzen in Oberösterreich, immer wieder zurückgewiesen. Für die Behandlungen gebe es ein wissenschaftliches Fundament, sagt der Direktor des Kurhauses, Friedrich Kaindlstorfer. An der Charité in Berlin würden etwa Evidenz-Untersuchungen durchgeführt. Ein eigener Beirat im Haus achte zudem darauf, "dass wir nicht in den Wellness-Bereich abrutschen", sagt Kaindlstorfer.

Auch die Oberin, Schwester Christiane Reichl, wehrt alles ab, was mit Wunder- oder Selbstheilen zu tun haben könnte: "Heilen können wir nicht, man kann sich auch nicht selbst heilen", sagt sie. "Aber dass mir Heil zufließt durch Angebote und Therapien, auch durch Spiritualität, daran muss ich glauben." Die beste Heilkraft bestünde letztlich darin, dass sich der Gast im Haus wohl fühle, denn dann würden auch die Therapien tiefer wirken.

Als der Betonbau aus den 70er Jahren an den Hängen des Mühlviertels vor fünf Jahren renoviert wurde, wollte man auch das Angebot des traditionellen Kneipp-Kurhauses erneuern. Die Idee der ganzheitlichen Medizin, die Geist, Seele und Körper als Einheit versteht, lag in einem von geistlichen Schwestern geführten Haus nahe. Paracelsus, Hildegard von Bingen und Pfarrer Kneipp sind seit dem Frühling dieses Jahres die Hausregenten, jene, deren Heilmethoden der traditionellen chinesischen Medizin gegenübergestellt werden - als TEM, traditionelle europäische Medizin. So wird auch gleich zu Beginn des Kuraufenthalts das Temperament jedes Gastes festgestellt: Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker oder Phlegmatiker - seine Grundgestimmtheit sozusagen.

Virchows Entdeckung

Jahrhundertelang hatte in unseren Breiten die Säfte-Lehre, die sogenannte Humoralmedizin, vorgeherrscht. "Der Bruch fand im 19. Jahrhundert statt, mit Entdeckung der Zelle durch Virchow, der ein begeisterter Mikroskopierer war", sagt der ärztliche Leiter, Martin Spinka, in seiner Ordination. "Schade, dass wir in Europa gesagt haben, ab jetzt gilt nur mehr das, was auf Zellebene nachweisbar ist."

Vor dem Arzt steht auf dem Schreibtisch ein gutes Dutzend Gläser mit dem Blut der Aderlass-Patienten von heute Früh. Oben hat sich in den Gläsern eine mehr oder weniger dunkle, dicke Ablagerung gebildet. Spinka hält das Glas schief, analysiert die Trübung der Körperflüssigkeit, die Farbe und stellt dadurch
Neigungen zu Entzündungen, Lymph- oder Nervenschwächen fest.

Eine Dreiviertelstunde dauert das Arztgespräch, das mit einer genauen Betrachtung des Patientenkörpers beginnt. "In den ersten fünf Minuten erfahre ich nichts über einen Patienten, aber nach 15 Minuten, wenn ich es schaffe, eine Beziehung aufzubauen, dann beginnt er Dinge zu erzählen, die wesentlich sind, die sein Wesen ausmachen", sagt der junge Arzt. "Wir tun uns als Schulmediziner schwer bei Menschen, die sich gesund fühlen und gute Laborergebnisse haben. Da kann die TEM Antworten geben."

Wert des Augenscheins

Augenschein ist ein wesentliches Element der ganzheitlichen Behandlungsmethode: Irisdiagnose, Zungendiagnose. "Was bedeutet es, wenn jemand auf der rechten Zungenseite einen Zahnabdruck hat? Was könnte ich in diesem Fall einem Menschen empfehlen? Das ist es, was mich begeistert", sagt Spinka. "Es ist das missing link, das mir keiner meiner medizinischen Lehrer jemals geben konnte. Bei allem Respekt vor dem Röntgen und dem computertomografischen Bild, aber die Klinik ist die Königsdisziplin."

Dennoch möchte er als ausgebildeter Schulmediziner auf seine an der Universität erworbenen Kenntnisse nicht verzichten: Bei einem Herzinfarkt biete die Implantierung eines Stents im Herzkranzgefäß eine Überlebenschance. "Das kann die traditionelle Medizin kaum bewerkstelligen", räumt er ein. Wenn man allerdings glaube, nach Entlassung aus dem Krankenhaus geheilt zu sein und so weitermachen zu können wie bisher, sei der nächste Infarkt vorprogrammiert.

"Was zum Herzinfarkt geführt hat, der Lebensstil, das psychosoziale Umfeld, das kann man nicht mit einem Stent reparieren", sagt der Kurarzt.

Hat man es aber geschafft, sich umzuorientieren, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, könne man die Medikamente schrittweise reduzieren und werde keinen neuerlichen Herzinfarkt mehr bekommen. Da erhalte dann die traditionelle europäische Medizin ihre Bedeutung.

Nach dem Aderlass soll man einige Tage Diät halten. Das "Hildegard-von-Bingen-Frühstück" unmittelbar danach besteht aus Dinkelkaffee, Dinkelbrot mit Thymianhonig sowie Hafermus, und auch die folgenden Mahlzeiten sind von Dinkel dominiert. Alsbald stellt sich Bemerkenswertes ein: die kollektive Sehnsucht einer Mangelgesellschaft: An allen Tischen der Aderlass-Patienten wird rege über Rezepte diskutiert. Meine beiden Nachbarinnen unterhalten sich eingehend darüber, wie man den Schweinsbraten so zubereitet, damit er eine richtig knusprige Kruste erhält.

Als zum Abschluss des Mittagessens Hirseauflauf mit Brombeeren serviert wird, hat sich das Gespräch schon hin zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung entwickelt, etwa dem Ausflugslokal Speck-Alm, wo es eine herrlich deftige Jause gebe.

Eine "Kräuterstempel-Massage".
© Foto: Kurhaus Bad Kreuzen

Am Nachmittag sind Vorträge angesetzt. Direktor Kaindlstorfer leitet einen Räucher-Workshop und zeigt sich als Fachmann der Materie. Auf dem Tisch des wie eine Alchimistenküche aussehenden Räucherraums stehen diverse Einmachgläser mit getrockneten Blättern und Blüten, Pokale, Phiolen. Kaindlstorfer erzählt von Spitälern, die das Räuchern medizinisch einsetzen, weil chemische Reinigungsmittel gegen manche Bakterien nicht mehr wirken.

Schale mit Duftstoffen

Weihrauch bietet sich an, aber Weihrauch ist nicht gleich Weihrauch. Da gibt es etwa jenen aus dem Oman und jenen aus Guatemala. Der Direktor entzündet einige Körner in einem Pokal, geht mit diesem durch die Reihen, wedelt mit einer Feder darüber, und alle strecken neugierig ihre Nasen nach vorne. "Rosenweihrauch ist sozusagen die Königsdisziplin", sagt er und streicht sanft über das kräuselnd aufsteigende Grau in einer Schale.

"Wegen der schlechten Qualität und chemischer Beimengungen sind Räucherstäbchen aus Fernost gefährlich", warnt der Direktor. Hingegen ließe sich recht einfach mit dem Baumschwamm Zunder oder mit Salbei räuchern. Lavendel diene der Entspannung. Das Ganze ähnelt weniger einer esoterischen Sitzung, vielmehr einer Weinverkostung, wenn Kaindelstorfer Schale um Schale mit neuen Duftstoffen präpariert.

"Derzeit ist alles visuell geprägt, überall sind Firmen-Marken", sagt er. "Unsere Beziehung zur Natur ist dadurch verloren gegangen. Wenn wir nicht richtig riechen, können wir auch nicht genießen." Dabei ist es ganz einfach: Bereits erwärmte Rosenblätter verströmen angenehmen Duft.

An der Seite des Räucherraums steht ein Destilliergerät, daneben sind Spray-Fläschchen mit darin abgefüllten Hydrolaten aufgestellt: Basilikum, Schafgarbe, Rosmarin, Fenchel, Apfelminze - alle auch vor dem Haus im großen Kräutergarten anhand ihrer Namensschilder zu identifizieren. Sie müssen nicht nur der Gesundheit dienen, sagt Friedrich Kaindlstorfer: "Mit dem grünen Pfeffer lassen sich hervorragend Grillsteaks einsprühen."

In erster Linie geht es aber doch um die Gesundheit und das Wohlbefinden in Bad Kreuzen. Neben den schon bisher bestehenden, weiträumigen Kneippanlagen bieten sich Hallenbad und Sauna an, im Aufenthaltsraum mit Blick weit über das Donautal empfehlen Dutzende Gläser mit Teesorten eine Pause.

Es gibt sogar Mischungen für die einzelnen Temperamente, den Sanguiniker-Tee etwa. In Ernährungsvorträgen erfährt man, welches Temperament mehr warme Kompotte zu sich nehmen, welches Milchprodukte einschränken sollte, gemäß der unterschiedlichen Zuordnung von warm/kalt und feucht/trocken zur eigenen Persönlichkeit.

Wyda statt Yoga

Selbst die Gesundheitsgymnastik sieht in Bad Kreuzen anders aus: Was anderswo unter Yoga läuft, nennt sich hier "Wyda", die Bewegungstherapie der keltischen Druiden. Vieles ist ähnlich, das aber rührt laut den Betreibern der TEM daher, dass es in früheren Jahrhunderten immer wieder Berührungen der Kulturen in Fragen des Heilens gab. So beruft sich die traditionelle europäische Medizin nicht nur auf die Römer und Griechen, sondern gleichermaßen auf ärztliches Wissen davor, vom persischen Mediziner Avicenna bis zu den Ägyptern.

Dass die Krankenkassen die Behandlungen nicht bezahlen, sieht Direktor Kaindlstorfer mitunter sogar als Vorteil: So können beispielsweise die diversen Wickel, von Erdäpfel über Thymian bis Topfen, den Gästen im Bett des eigenen Zimmers verabreicht werden. Anderen Kurhäusern würden die Kassen vorschreiben, dafür eigene Räume vorzuhalten.

Leicht ist es dennoch nicht, sagt der Betriebsleiter von Bad Kreuzen: Anders als in Deutschland und der Schweiz gibt es in Österreich den Beruf des Heilpraktikers nicht. Auch musste das Personal neu geschult werden: Während des Umbaus der Kuranstalt zum 1. Zentrum für traditionelle europäische Medizin waren die Mitarbeiterinnen in viermonatiger Bildungskarenz.

Jetzt seien sie aber mit Feuereifer bei der neuen Sache, sagt Friedrich Kaindlstorfer. Und auch die Gäste, aufgrund der Kneipp-Vergangenheit des Hauses nach wie vor noch eher älteres Publikum, seien sehr zufrieden. Offenbar ist es ein allgemeiner Trend: "Die Menschen wollen wissen, was man mit dem Löwenzahn vor der Haustür anfangen, wie man die eigene Dusche zur Therapie nutzen kann", bestätigt Kurarzt Spinka.

Stefan May geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien und schreibt regelmäßig Reportagen fürs "extra".

Website Bad Kreuzen