Inmitten aller Sachzwänge und Detailprobleme verliert man leicht den Blick für die großen Probleme. Deshalb sei hier einmal ganz kühn die Frage gestellt: Was wäre eine sinnvolle Wirtschaftspolitik?
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Träumen wir einmal, oder spielen wir Christkind (copyright Michael Spindelegger). Dann könnten wir eine kurz- und mittelfristige wirtschaftspolitische Strategie für Österreich im Rahmen der EU entwerfen. Diese sähe etwa so aus:
1. Solange die Krise nicht vorbei ist, würden wir die Konjunktur weiter stützen, nicht nur über die Europäische Zentralbank wie derzeit, sondern auch über die nationalen Fiskalpolitiken, vor allem der Länder mit Leistungsbilanzüberschuss, anstatt die Erreichung eines "Nulldefizits" zu fetischisieren. Konkret würde das bedeuten, die öffentliche Nachfrage mit langfristig sinnvollen Investitionsprojekten auszuweiten, solange die private Nachfrage lahmt.
2. Wir würden in den öffentlichen Haushalten Österreichs einen echten Kassasturz machen, auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene und auch bei den Sozialversicherungen, und dort echte mittelfristige Prioritäten setzen - nach den Kriterien Beschäftigungs- und Wachstumsintensität, dringendste soziale Bedürfnisse (Pflege, Gesundheit, Armutsbekämpfung, etc.), Umweltrelevanz, Subsidiarität und Effizienz. Damit würden gleichzeitig Kompetenzen dorthin verlagert, wo sie am besten wahrgenommen werden können, Parallelitäten verhindert und alle öffentlichen Haushalte den gleichen Kriterien, Verbuchungsvorschriften und Überwachungsmechanismen unterworfen.
Damit würde auch die vor allem im Bund übliche gleichmäßige Kürzung der Ermessensausgaben aller Ressorts (aktuell minus 6,6 Prozent), die seit Jahrzehnten implizit alte und auch obsolete Prioritäten fortschreibt, endlich durch am Gemeinwohl orientierte Ausgabenstrukturen abgelöst. Es ist nicht mit diesem vereinbar, wenn Ministerien mit relativ hohen Ermessensausgaben und relativ niedrigen gesetzlich festgelegten Ausgabenstrukturen absolut mehr einsparen sollen als die anderen.
Sanierung der Banken
3. Wir würden die Sanierung des österreichischen Bankensektors durch eine Reduzierung der Institute und Filialen, Stärkung der Eigenkapital- und Liquiditätsbasis und Aufbrechen der Regionalinteressen im Finanzsektor angehen und die Aufsicht, sowie die Politik vom übermäßigen Lobbyismus des Finanzsektors befreien.
Wir würden das Parlament über alle Optionen der derzeit im öffentlichen Eigentum stehenden Banken - unter Beiziehung internationaler und nationaler Experten - beraten lassen, anstatt den Steuerzahlern ohne öffentliche Diskussion massive Sanierungskosten, die durch die Entschlusslosigkeit der Regierung bereits deutlich angestiegen sind, im Ausmaß von zweistelligen BIP-Anteilen aufzubürden.
Auf europäischer Ebene würden wir mit Eifer die Vollendung der Bankenunion vorantreiben, die den unseligen Konnex zwischen Finanzsektor und Staat aufbrechen kann.
4. Wir würden uns auf europäischer Ebene massiv dafür einsetzen, der Europäischen Zentralbank die Kompetenz für die nicht über Steuern und Abgaben laufende Finanzierung der öffentlichen Haushalte der Euroländer zu übertragen, um diese von den Irrationalitäten der privaten Finanzmärkte, deren legitimes Interesse Gewinnerzielung und keineswegs das Gemeinwohl ist, zu entziehen. Die EZB müsste die Finanzierung der Staatsverschuldung natürlich nach allgemein akzeptierten Regeln zu differenzierten Konditionen vergeben und den nationalen Parlamenten und dem EU-Parlament rechenschaftspflichtig gemacht werden.
5. Das Spezifikum des europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems ist der Wohlfahrtsstaat. Dieser hat auch deutliche positive Produktivitätswirkung. Er ist zunehmend durch Effizienzfanatismus, die Idee des "Standortwettbewerbs" und die Ideologie des Individualismus statt Solidarität unter Beschuss. Seine Durchforstung auf Sinnhaftigkeit einzelner althergebrachter Instrumente, Weiterentwicklung, und gegebenenfalls Ausbau muss das vorrangige Ziel der Wirtschaftspolitik sein. Die Bürgerinnen und Bürger, nicht die Interessen der Reichen und ihrer Unternehmen sind der Souverän und Subjekt der Wirtschaftspolitik.
6. Wir würden uns auf europäischer Ebene stark dafür einsetzen und mit Bündnispartnern einen Dialog starten, dass die EU-Wirtschaftspolitik sich auf die Stärkung der Binnennachfrage und Verbesserung des Binnenangebots statt fast ausschließlich auf externe Wettbewerbsfähigkeit konzentriert. Makropolitik muss zwischen Fiskal- und Geldpolitik abgestimmt werden, wobei die nationalen Spielräume und Notwendigkeiten über die jeweilige Fiskalpolitik abgedeckt werden müssen.
Das Ziel der EU-Politik müsste die Erhaltung und Steigerung des Wohlfahrtsniveaus der europäischen BürgerInnen sein, etwa im Sinne des "magischen Vielecks", welches Beschäftigung, Wachstum, Außenbilanz, Inflation, öffentliche Haushalte, Sicherung des Wohlfahrtsstaates und der Umwelt zu gleichgewichtigen Zielen hat. Dies ist wahre "Wettbewerbsfähigkeit" von Staaten. Zielkonflikte sind in den Parlamenten öffentlich zu diskutieren, unter starker Beteiligung der europäischen Zivilgesellschaft.
Die Heranführung der Wohlstands-Nachzügler an das mittlere EU-Niveau sollte Vorrang vor weiteren Vorsprüngen der starken Länder haben.
7. Auf EU- und nationalen Ebenen würden wir alles daran setzen, die in den letzten Jahrzehnten massiv verschlechterte Einkommensverteilung wieder umzukehren. Umverteilung kann nicht nur durch das Steuer- und Abgabensystem erfolgen, sondern muss auch durch geeignete Maßnahmen in die Primärverteilung eingreifen. Mindestlöhne, Zurückdrängung von schlechter bezahlter Leiharbeit und prekärer Arbeit, Regeln und Beschränkungen für exzessive Managereinkommen, Regeln für Bonusrückzahlungen bei späterem Misserfolg sind solche Instrumente. Die bisherige allgemeine EU-Regel, Lohneinkommen an den Produktivitätserfolg zu koppeln, ist nicht eingehalten worden.
8. Auf EU-Ebene würden wir uns für eine Stärkung der steuerlichen Eigenfinanzierung der EU-Institutionen einsetzen, um das EU-Budget in die Lage zu versetzen, selbst (d.h. ohne auf die Mitgliedstaaten zurückgreifen zu müssen) auch gegenzyklisch agieren zu können. Damit wäre langfristig eine Steigerung des EU-Budgets von derzeit etwa einem Prozent des BIP auf etwa zehn Prozent erforderlich. Zum Ausgleich müssten die nationalen Abgabenquoten sinken. Ein Konjunkturausgleich etwa in Form einer zusätzlichen EU-Arbeitslosenversicherung wäre sinnvoll.
Der ursprüngliche Kommissionsvorschlag zu einer EU-Finanztransaktionssteuer müsste wiederbelebt und umgesetzt werden. Die Lobby-Anstrengungen der europäischen Finanzindustrie in diesem Bereich, aber auch in den meisten anderen Bereichen der europäischen Finanzmarktregulierung müssten eingeschränkt werden, damit endlich die grundlegenden Lehren aus der Finanzkrise gezogen werden.
Kampf der Geldwäsche
9. Steuerflucht, Steuerwettbewerb zwischen europäischen Staaten, Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Korruption müssten endlich wirksam bekämpft werden. Damit würden die derzeitigen halbherzigen Lippenbekenntnisse mit Leben erfüllt, und die Finanzierung der gesellschaftlich relevanten öffentlichen Ausgaben sichergestellt werden, ohne dass zunehmend auf weitere Staatsverschuldung umgestellt wird.
10. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, besonders der Jugendarbeitslosigkeit würde Priorität Nr. 1 in der EU und der nationalen Wirtschaftspolitik erhalten. Dafür ist nicht nur das ewige Mantra von der weitergehenden "Flexibilisierung" der Arbeitsmärkte zu wiederholen, sondern sind auch europaweite, unkonventionelle Maßnahmen wie der Aufbau einer Lehrlingsausbildung, die Zurückdrängung von schlecht bezahlter und schlecht abgesicherter Leiharbeit, Verbot von Überstunden und generelle Arbeitszeitverkürzung, sowie auch die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens in Betracht zu ziehen.
11. Der Umweltpolitik würde die zweite Priorität eingeräumt werden. Anstatt sie, wie derzeit geschieht, unter dem Argument der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zurückzufahren, muss sie unter dem Nachhaltigkeitsaspekt zum Wohlergehen der derzeitigen und künftigen Generationen Priorität erhalten.
Die rasche Ausbeutung der Öl- und (auch unkonventionellen) Gasvorräte, die Preiskonkurrenz durch US-Kohle sowie durch heimische europäische Vorkommen müsste einer langfristigen bindenden Klimastrategie weichen, die den Vorsprung der europäischen erneuerbaren Energieversorgung, aber auch nachfrageseitige Errungenschaften wie den öffentlichen Verkehr, den Aufbau nachhaltiger umweltfreundlicher Siedlungsstrukturen zum Kernpunkt der notwendigen Verhaltensänderungen der Bürgerinnen und Bürger macht.
Überzeugungsarbeit
12. Um eine solche nachhaltige, am Gemeinwohl orientierte Wirtschaftspolitik umzusetzen, bedarf es gewaltiger Überzeugungsanstrengungen, sowie neuer Entscheidungsformen. Nur unter Mitnahme der EU-Bügerinnen und Bürger kann eine solche nachhaltige Politik umgesetzt werden. Dies wird nicht durch die eine oder andere Volksabstimmung oder Parlamentswahl zu erreichen sein. Es muss als Grundlage anerkannt werden, dass die 500 Millionen EU-Menschen sehr unterschiedliche Weltanschauungen, Wertehaltungen und Ansichten haben, sowohl zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten als auch innerhalb dieser.
Will man möglichst viele Menschen mitnehmen, müssen Informations- und Entscheidungsformen gefunden werden, die diese Unterschiede als legitim anerkennen - und sie nicht durch "Mehrheitsentscheid", vorgeblich demokratisch überstimmen. In diesem Fall würden die Abstimmungsverlierer auch die Umsetzung boykottieren. Es geht daher eher um mühsame und langwierige Informationsveranstaltungen, um die Nennung und Identifizierung der unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Positionen und um die Erarbeitung gemeinsamer Lösungen, die zwar für keinen einzelnen optimal, aber für alle akzeptabel sind.
Solche "schlampige" oder "unelegante" Lösungen sind in Österreich mit seinen langwierigen Sozialpartner-Aushandlungsprozessen nicht unbekannt, müssen jedoch von der Funktionärsebene auf die Bevölkerungsebene heruntergebracht werden. Experten haben dabei wichtige Auskunfts- und Informationsaufgaben, doch sind sie keineswegs Platos Philosophenkönige, die selbst die Entscheidungen treffen.
Ist das alles nur ein Traum, oder kann es Wirklichkeit werden? Arbeiten wir alle daran!
Kurt Bayer ist Ökonom und war Board Director in der Weltbank (Washington) und der EBRD (European Bank for Reconstruction and Development, London) sowie Gruppenleiter im Finanzministerium. Blog: kurtbayer.wordpress.com