)
Die Grüne EU-Spitzenkandidatin Ska Keller will wirtschaftliche Ziele an Vorgaben zum Umweltschutz koppeln.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung":Sie waren gerade in Großbritannien, was die Spitzenkandidaten von Sozial- und Christdemokraten in ihrem EU-Wahlkampf vermeiden. Sie haben die Briten für die Gemeinschaft noch nicht aufgegeben?Ska Keller: Ganz und gar nicht. Die Grünen stehen auch hier ganz gut da in den Umfragen, und wir hoffen, mehr britische Abgeordnete als bisher ins EU-Parlament zu bringen.
In Umfragen erhalten die Grünen aber oft mehr Stimmen als dann tatsächlich beim Urnengang. . .
Klar ist das noch kein Wahlergebnis, doch selbst die Umfragen sind kein Selbstläufer. Wir haben auch an diesen Werten gearbeitet.
Was haben Sie denn anzubieten? Die Kritik an Sparprogrammen sowie hohen Arbeitslosenraten und andererseits der Ruf nach Stärkung der sozialen Dimension der EU sind mittlerweile auch von Konservativen im EU-Parlament zu hören. Was ist die grüne Alternative zum jetzigen politischen Kurs?
Die einseitige Sparpolitik garantiert keineswegs, dass wir aus der Krise rauskommen. Stattdessen möchten wir langfristig in die Zukunft investieren - was nicht bedeutet, dass das erst in 50 Jahren startet, sondern auch noch in 50 Jahren Bestand hat. Das bedeutet Jobs von guter Qualität, solche, von denen die Menschen leben können. Wir wollen in die grüne Wirtschaft investieren; in erneuerbare Energie und Energieeffizienz, aber ebenso in Bildung und den Gesundheitsbereich.
Wie soll das finanziert werden?
Die Union muss das Geld aufbringen, um den Klimawandel zu begrenzen. Auch sind finanzielle Anreize nötig. Bei den Verhandlungen um das mehrjährige EU-Budget haben wir zum Beispiel vorgeschlagen, dass Geld in die Forschung zu erneuerbaren Energien fließt, was wiederum Jobs kreieren würde. Das ist dann aber verhindert worden. Und bei der Agrarreform wollten wir vor allem kleine und mittlere Betriebe gefördert sehen. Wir wollen ja auch künftige Probleme vermeiden: Wenn wir jetzt in Bildung investieren, haben wir später weniger Arbeitslose.
Weite Teile der Industrie sehen das anders: Ambitionierte Vorgaben zum Klimaschutz seien mit den Zielen zum Wirtschaftswachstum nicht vereinbar.
Wir können nicht einfach so weiter wachsen, ohne auf die Umwelt Rücksicht zu nehmen. Wenn wir nicht jetzt den Klimawandel verlangsamen, wird es dann viel teurer. Es ist zu kurz gedacht, Wirtschaft gegen Klimaschutz zu stellen; beides muss Hand in Hand gehen. Damit werden dann auch Wohlstand und Arbeitsplätze geschaffen, etwa im Bereich erneuerbarer Energien. Die EU-Kommission etwa sagt, dass mit etwas ambitionierteren Klimazielen bis 2020 an die sechs Millionen Jobs kreiert werden könnten.
Darauf müssten sich die Länder aber erst einigen. Wie wollen die Grünen, wie will das Parlament den eigenen Forderungen mehr Gewicht verleihen?
Das Parlament hat sich bereits viele Rechte erkämpft und ist schon auf Augenhöhe mit der Versammlung der Mitgliedstaaten, auch wenn diese das oft vergessen. Die Mandatare müssen daher manchmal auf den Tisch hauen und in Kauf nehmen, bestimmte Bereiche zu blockieren. Die EU-Kommission wiederum muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht - ob sie als europäische Institution mit dem Abgeordnetenhaus zusammenarbeitet oder lieber mit den Ländern mauschelt. Von der Kommission um Präsident Jose Manuel Barroso kamen eher die Signale, dass lieber mit den Staaten verhandelt wird.
Zumindest bei der Bestellung des nächsten Präsidenten soll das anders sein: Der Spitzenkandidat der Partei, die bei der EU-Wahl die meisten Stimmen bekommt, soll automatisch Bewerber um das Amt sein. Können Sie sich vorstellen, dass die Staats- und Regierungschefs diese Forderung des Parlaments ignorieren und einen eigenen Kandidaten aufstellen?
Die Mitgliedstaaten können es sich nicht erlauben, das Parlament zu übergehen. Zudem ist im EU-Vertrag, dem die Länder zugestimmt haben, festgelegt, dass das Wahlergebnis zu berücksichtigen ist. Falls das missachtet würde, wäre es ein massiver Rückschlag für die europäische Demokratie.
In dem Fall könnte das Parlament auf den Tisch hauen - indem es den Kandidaten der Länder samt Kommission ablehnt.
Wenn es nötig sein wird, auf den Tisch zu hauen, werden wir Mittel und Wege finden, es zu tun.
Die Spitzenkandidaten der Sozial- und der Christdemokraten sind Martin Schulz und Jean-Claude Juncker. Wen würden die Grünen unterstützen?
Wir werden einen Kommissionspräsidenten unterstützen, der grüne Akzente in seinem Programm hat. Bisher gibt es keine entsprechenden Angebote, deswegen warten wir erst einmal ab.
Welche Akzente wollen die Grünen selbst setzen?
Wir arbeiten daran, wofür wir uns bisher eingesetzt haben. Wichtig ist uns die ökologische Modernisierung Europas; wir wollen ein offenes, demokratisches Europa. Ändern muss sich beispielsweise die Flüchtlingspolitik.
Wo bleibt die Migrationspolitik?
Sie müsste dringend geregelt werden. Dadurch, dass wir keine einheitliche Politik haben, fühlen sich viele Menschen, die nach Möglichkeiten zum Überleben suchen, gezwungen, über Zäune zu klettern. Wenn Türen versperrt sind, werden Menschen versuchen, übers Fenster hineinzugelangen. Wir können ein für alle besseres Ergebnis erreichen, wenn wir endlich legale Möglichkeiten der Migration schaffen.
Ska Keller sitzt seit 2009 für die Grünen im EU-Parlament. Die 1981 in der damaligen DDR-Stadt Guben geborene Politikerin studierte Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik. Gemeinsam mit José Bové bildet sie ein Duo an der Spitze der Liste der Grünen.