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"Besonders erschwerend ist, dass Adipöse nicht 'trocken' bleiben können, weil jeder Mensch Nahrung braucht", so die Psychologin.
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Salzburg/Wien. Der ewige Kampf gegen Kilos ist das ganze Jahr über ein großes Thema in Magazinen. Ob es nun die Frühjarskur, die Bikini-Figur, die Herbst-Entschlackung oder der Kampf gegen den Winterspeck ist, immer und überall ist es ein Thema.
Für Abnehmwillige ist es ohnehin ein Langzeitprojekt und obwohl eigentlich ohnehin schon bekannt sein dürfte wie man abnimmt und worauf man achten muss, ist der Markt immer noch nicht gesättigt. Die Dicken laufen umher und suchen nach einer schnellen, unkomplizierten Lösung. Einem Hilfsmittel, das sie aus dem Kreislauf des Dickseins herauszieht.
Zwischen Shakes und Nulldiät
Egal, ob Eiweißbrot für den Abend - in den meisten Fällen ist dafür der Fettgehalt immens hoch, über Eiweißshakes, die den zwischendurch Heißhunger bekämpfen sollen bis hin zur Nulldiät. Alles bekannt, alles ausprobiert und immer noch nicht dünner.
Woran liegt es nun? Liegt es an dem mangelnden Durchhaltevermögen? Ist uns Übergewichtigen nicht bewusst, dass es lange dauert, bis man endlich einmal wieder ein "normales" Gewicht erreicht hat und das es dann einer bewussten, gesunden und ausgewogenen Ernährung bedarf, um dieses Gewicht auch längerfrisitg zu halten? Liegt es an der Lebensmittelindustrie, die immer neue Kreationen hervorbringt, die vielleicht weniger Fett, dafür mehr Zucker haben? Liegt es an den dauernden Abnehmphasen, auf die dann wieder unkontrollierte Zyklen des Überessen folgen? Liegt es an der Werbung im Fernsehen, die die Zuckersüchtigen nicht von der Sucht loskommen lässt?
Alles umsonst?
Am Montag flatterte eine Agenturmeldung in mein Postfach, die ich Ihnen nicht vorenthalten kann und will, aber eines gleich vorweg - ich gebe nicht auf. Nein, das muss jetzt sein. Der Bauch muss weg und dann schauen wir weiter:
Für adipöse, also stark fettleibige Menschen, gibt es kaum eine Chance, dauerhaft abzunehmen. Dieses wenig erfreuliche Resümee zieht die Salzburger Psychologin Elisabeth Ardelt-Gattinger, die sich seit 15 Jahren interdisziplinär mit diesem Thema beschäftigt und dabei mit fast 4.500 Kindern und 6.600 Erwachsenen gearbeitet und geforscht hat, aufgrund einschlägiger Erfahrungen weltweit. Während sie früher noch Programme mit Gewichtsabnahme startete, lautet heute ihre Empfehlung ein möglichst gesunder Lebensstil mit Adipositas.
Ardelt-Gattingers Nachweis, dass es sich bei Fettleibigkeit um eine Sucht handelt, die mit Alkohol- oder Drogensucht vergleichbar ist, stieß anfangs auf heftige Kritik. Inzwischen sei das in der Wissenschaft anerkannt, bei vielen Ärzten oder anderen Experten aber immer noch nicht angekommen, sagt sie im Gespräch. Sucht wird diagnostiziert, wenn zumindest drei von sechs verschiedenen Kriterien (ICD-10) erfüllt werden, bei der umgangssprachlichen Fettsucht sind es deren vier.
Man kann nicht "trocken" bleiben
"Besonders erschwerend ist, dass Adipöse nicht 'trocken' bleiben können, weil jeder Mensch Nahrung braucht", so die Psychologin. Der ständige Gedanke ans Nicht-Essen führt zu einem sogenannten ironischen Prozess: Das, was man eigentlich unterdrücken will, ist permanent präsent. So stellte das Team rund um Ardelt-Gattinger fest, dass Kinder, die beim Anblick ihres Lieblingssnacks den Gedanken ans Essen unterdrücken sollten, doppelt so viel Speichel erzeugten als jene Kinder, die ihren Gedanken freien Lauf lassen konnten. "Und in dieser Überflussgesellschaft ist man permanent Essensreizen oder der Werbung dafür ausgesetzt", so die Forscherin.
Viele Einflussfaktoren
Gefragt nach den Ursachen der Erkrankung sagt die Psychologin: "Es gibt 500 Erklärungen und unendlich viele Faktoren." Die genetische Anlage spiele sicher ebenso eine Rolle wie die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft. Leide diese selbst an Fettleibigkeit, lebt das Kind die ersten neun Monate schon in diesem Kreislauf.
Ardelt-Gattinger spricht auch von einer "Ernährungsverwahrlosung". Viele Kinder bekämen kein warmes Mittagessen. Und wenn es etwas Warmes gibt, sei es hochkalorische Fertignahrung oder ungesundes Fastfood. Besonders betroffen seien sozial und materiell benachteiligte Gruppen. "Diesen Menschen fehlt es an Geld und Zeit, am Abend noch ein gesundes Essen zuzubereiten oder noch mit den Kindern rauszugehen, um Bewegungsanregung zu geben." Die Chance auf dauerhafte Gewichtsreduktion sei für diese Gruppe am geringsten, so die Wissenschafterin.
Besonders schwierig sei es, lange eingespielte Gewohnheiten zu ändern. "Können Sie sich vorstellen, den Frühstücks-Kaffee aus einem Weinglas zu trinken?" Gesundes Kochen, das gleich teuer und gleich schnell zubereitet ist, müsse erst gelernt werden. Diäten funktionieren, weil man während dieser Zeit daran dankt, was man alles Essen darf. Nach der Diät falle man rasch in alte Muster zurück und es komme zum klassischen Jojo-Effekt, bei dem danach oft mehr Gewicht auf die Waage gebracht wird als vor der Diät. "Es gibt Menschen, denen nach 20, 30 Jahren das Magenband entfernt werden musste und die schon nach wenigen Monaten wieder ihr Ursprungsgewicht erreicht hatten." Dennoch seien die Apotheken immer noch voll mit Diät-Produkten und würden viele Ärzte zur Gewichtsabnahme raten.
Normales, gesundes Leben trotz Fettleibigkeit als Ziel
Die meisten adipösen Menschen nehmen kein Frühstück zu sich, weil sie möglichst lange "durchhalten" wollen, und denken den ganzen Tag ans Nicht-Essen. Schließlich kommt es zur Unterzuckerung, die nicht selten mit Fress-Attacken kompensiert wird. Bereits für jedes vierte (schwer) übergewichtige Kind über zwölf Jahren endet das lange Hungern am Tagesbeginn mit einem Fress-Anfall, auf den jeder Dritte dieser Gruppe dann mit künstlichem Erbrechen oder Abführen reagiert.
Das Team aus Salzburg stellte fest, dass Essstörungen in der Gruppe der Schwergewichtigen überdurchschnittlich häufig vorkommen: Während ein bis zwei Prozent der Normalbevölkerung an Bulimie leiden, sind es unter den Adipösen sechs bis sieben Prozent. Von Fress-Attacken sind ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, aber 30 Prozent der Fettleibigen betroffen.
Enttäuschung an der Tagesordnung
Nach der weltweiten Erkenntnis, dass eine dauerhafte Gewichtsabnahme kaum möglich ist, war die Salzburger Psychologin "eine Zeit lang völlig verzweifelt". Eltern von Kindern, mit denen sie in Gruppen gearbeitet hatte, "sind so voll Hoffnung zu uns gekommen und haben später so aggressiv und wütend reagiert, als sich gezeigt hat, dass die Gewichtsreduktion nur kurzfristig zu halten war".
Heute versucht sie, Betroffenen zu lernen, Spaß an der Bewegung zu haben und den Lebensstil zu ändern. Die Sportwissenschaft habe festgestellt, dass trainierte adipöse Kinder in Sachen Fitness und Motorik gesunden Kindern kaum nachstehen. Zuhause sollten ungesunde Lebensmittel nur in kleinen Mengen bevorratet werden - nach dem Motto, lieber eine ganze, aber kleine Tafel Schokolade statt ein kleines Stück einer großen Tafel.
"Health at any Size"
In der Wissenschaft hat sich in den vergangenen zehn Jahren das Paradigma "Health at any Size" durchgesetzt. Das heißt, Adipöse sollten medizinisch unauffällig sein, sich regelmäßig bewegen, mit gesunder Mischkost ernähren und dieses Essen auch genießen können. Außerdem soll versucht werden, ein gutes Selbstbewusstsein trotz des hohen Gewichts aufzubauen oder zu behalten, um kritische Situationen - etwa beim Kleidung-Kaufen, im Schwimmbad oder bei Spott - halbwegs zu meistern.
Besonders wichtig ist es Ardelt-Gattinger, dass die Gesellschaft von der Stigmatisierung der Fettleibigkeit und gleichzeitig dem "wahnsinnigen Schönheitsideal" - der Dünnste ist der Schönste, der Dickste der Hässlichste - wegkommt. Denn das führe bereits bei Achtjährigen zu vorklinischer Bulimie.
Und schließlich sollte Adipositas endlich als chronische Krankheit gesehen und behandelt werden. "Kein Mensch lacht, wenn ein Krebspatient nach einer Chemotherapie die Haare verliert, aber über Dicke lacht man. Jeder lacht, wenn ein Dicker hinfällt, aber keiner lacht, wenn ein Behinderter aus dem Rollstuhl fällt. Fettleibigkeit wird mit Schuld, mit maßloser Völlerei verbunden."
Für ihre langjährige Forschung und Arbeit wurde das Salzburger Team vor zwei Wochen mit dem "ECOG and Louis Bonduelle Research Award" (European Childhood Obesity Group) ausgezeichnet.
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