Der Bruch zwischen Sozialdemokraten und Konservativen schwächt nach der Wahl das EU-Parlament.
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Straßburg. Die Europäischen Volkspartei (EVP) gab sich schon am Nachmittag siegessicher. Mit den Stimmen der Alde-Fraktion, der viertgrößten politischen Familie im Europäischen Parlament, würde es sich schon ausgehen, so der Tenor. Der Grund für die gute Laune: Der liberale Guy Verhofstadt hatte seine Kandidatur Dienstag in der Früh zurückgezogen und angekündigt, seine Alde-Fraktion werde stattdessen den EVP-Mann Antonio Tajani unterstützen. Im Gegenzug dürfen die Liberalen Abgeordnete als Vize-Präsidenten entsenden und auch den Präsidenten aller Ausschussvorsitzenden stellen, hieß es aus EVP-Kreisen. Einige Nachrichtenagenturen berichteten zudem, dass die Liberalen im Rahmen der neuen Koalition eine weitere Amtszeit von Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, unterstützen würden.
In den ersten drei von insgesamt vier Wahlgängen konnte der Konservative zwar keine absolute Mehrheit (342 der 683 abgegebenen Stimmen) erzielen. Doch zeichnete sich schon zu Mittag ab, dass Tajani den vierten Wahlgang – eine Kampfabstimmung zwischen ihm und dem Sozialdemokraten Gianni Pittella – mit den Stimmen der Alde-Fraktion und einigen europakritischen Abgeordneten für sich entscheiden würde. Das tat er am Abend dann auch: Der Konservative gewann die Stichwahl gegen seinen sozialdemokratischen Konkurrenten mit 351 zu 282 Stimmen.
Bereits bei der ersten Abstimmung hatte Tajani das mit Abstand beste Ergebnis erzielt: Er erhielt 274 der 683 gültigen Stimmen. In den folgenden beiden Wahlgängen konnte der Konservative seinen Vorsprung ausbauen: Zunächst legte er auf 287 Stimmen zu, in der dritten Runde auf 291. Indes gewann Pittella in der zweiten Runde 17 Stimmen auf 200 dazu, rutschte aber im dritten Wahlgang wieder auf 199 Stimmen ab. Die anderen vier Kandidaten erhielten jeweils die Unterstützung von 43 bis 77 Abgeordneten.
"Unser Kandidat hat jetzt nur noch Außenseiterchancen", sagte die SPÖ-Delegationsleiterin Evelyn Regner schon nach der ersten Abstimmung – um gleich darauf den Deal zwischen Liberalen und EVP zu kritisieren: "Verhofstadt dreht sich wie ein Blatt im Wind. Er sucht sich immer seine Vorteile, wenn er schon nicht den großen Gewinn bekommt. Politisch möchte ich wissen, wo die Alde da hinsteuert." Auch in der liberalen Fraktion waren viele nicht begeistert über den Deal ihres Fraktionschefs, der zuletzt bereits wegen der versuchten Allianz mit der eurokritischen italienischen Fünf-Sterne-Bewegung in die Kritik geraten war.
Mit Tajani als neuem EU-Parlamentspräsidenten sind alle EU-Institutionen in EVP-Hand – genau das wollten die Sozialdemokraten der S&D eigentlich verhindern. Denn die Übermacht der Konservativen ist nicht nur von symbolischer Bedeutung. Mit dem EU-Parlament, der Kommission und dem Rat unter EVP-Führung können sie ihre Agenda schneller und einfacher durchsetzen. Ursprünglich hatten EVP und S&D vereinbart, dass ein EVP-Kandidat das Präsidentenamt von Martin Schulz übernimmt. Weil dann aber alle drei EU-Institutionen von Konservativen geführt würden, kündigten die Sozialdemokraten diese Abmachung auf.
Und so geht das EU-Parlament geschwächt aus dieser Wahl hervor. Tajani hat schon angekündigt, ein anderer Präsident sein zu wollen als Schulz einer war. Der Deutsche hatte nie ein Blatt vor den Mund genommen und mit Kritik etwa an der Türkei oder Israel nicht gerade gegeizt – das konnte er als EU-Parlamentspräsident auch, denn im Gegensatz zu den Staats- und Regierungschefs muss dieser keine nationalen Interessen vertreten. Doch Tajani will sich aus den großen Fragen eher heraushalten und neutraler agieren.
Wieder keine "echte" Wahl
Nun muss sich auch Kommissionspräsident Juncker, der voriges Jahr gedroht hatte, zurückzutreten, sollte sein Freund Schulz gehen müssen, um die Stabilität im europäischen Institutionengefüge sorgen. Mit Schulz konnte er vieles hinter verschlossenen Türen vereinbaren. Auch deshalb sahen viele den Abgang des Deutschen als positiv. Im EU-Parlament freuten sich Abgeordnete der kleineren Fraktionen darüber, dass es diesmal zu einer echten Wahl kommen sollte, bei der die Mehrheiten, ausgehandelt von den beiden Großparteien, nicht schon lange davor feststehen. Diese Hoffnung ist nun in letzter Minute zerschlagen worden.
Muss Juncker künftig im Parlament um Mehrheiten kämpfen, macht ihm das inmitten der tiefen Krise der Europäischen Union das Leben noch schwerer. Zwar teilen Juncker und Tajani die Zugehörigkeit zur EVP-Familie, doch kommen sie aus völlig unterschiedlichen Lagern. Der 63 Jahre alte Jurist aus Rom gehört der konservativen Forza Italia an. Als politischer Ziehsohn und einstiger Pressesprecher des damaligen Regierungschefs Silvio Berlusconi hat er sich bis heute nicht vom Bunga-Bunga-Premier distanziert.
Er kämpfte schon immer für ein traditionelles Familienbild, sprach sich gegen Abtreibung und Homo-Ehe aus. Tajani sitzt, mit Unterbrechungen, seit 1994 im Europaparlament und ist seit 2014 einer der 14 Vizepräsidenten. Während seiner sechs Jahre als EU-Kommissar, zunächst für Verkehr, später für Industrie, tat er dezidiert nichts. Um die Autoindustrie nach der Krise zu entlasten, solle es keine neuen Vorschriften geben, hieß es damals. Hinweise, dass VW und andere Konzerne die Abgaswerte ihrer Dieselfahrzeuge beschönigten, ließen Tajani unberührt.
Auch in den eigenen Reihen stößt der Italiener nicht überall auf Begeisterung. "Schulz hätte weitermachen sollen", sagt ein EVP-Abgeordneter, der nicht aus Österreich kommt. Dabei stößt er sich mehr am Bruch der großen Koalition als an der Person Tajani: "Das Parlament wird nun unregierbar, weil Liberale und Konservative keine absolute Mehrheit zustande bringen." Die politischen Positionen der beiden Fraktionen seien zu unterschiedlich: "Das reicht nicht für ein Stabilitätsprogramm in der zweiten Legislaturperiode."
Für Angelika Mlinar, Österreichs Neos-Abgeordnete im EU-Parlament, war die Unterstützung Tajanis mangels Alternativen "die beste Wahl". "Allerdings", so Mlinar, "heißt das keineswegs, dass ich in Zukunft inhaltlich mit der EVP in allen Belangen übereinstimmen werde".
Radikale wittern Morgenluft
Mit dem Ende der Großen Koalition im Europaparlament sehen nun auch radikale und anti-europäische Kräfte neue Chancen. Es liegt am Scheitern der Großparteien, am Bruch zwischen Sozialdemokraten und Konservativen und an ihrem Unvermögen, sich auf einen Kompromisskandidaten zu einigen, dass es am Ende ausgerechnet die Stimmen der Rechten um Frankreichs Front-National-Chefin Marine Le Pen gewesen sein könnten, die den Ausschlag gaben. Um das zu verhindern, hatte sich EVP-Fraktionschef Manfred Weber in den vergangenen Wochen bemüht, die mit 74 Mitgliedern drittstärkste "Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer" auf seine Seite zu ziehen. Zu der Familie gehören nicht nur die Brexit-Befürworter der britischen Tories, sondern auch die polnische PiS-Partei und andere Rechtspopulisten. Weber hat auch den Sozialdemokraten vorgeworfen, mit dem extremen Rand zu paktieren – mit der Linksfraktion, die "extrem radikal" sei. Gleichzeitig versuchte er zu beschwichtigen: Man sei nach wie vor offen für eine Zusammenarbeit, wolle die Partnerschaft fortsetzen. Mit einem Präsidenten Tajani werde man "den Kampfanzug anziehen und gegen Populisten und Anti-Europäer in die Schlacht ziehen".
Doch die Sozialdemokraten blieben bei ihrem Kandidaten und hatten angekündigt, den blassen, profillosen Pittella wenn nötig bis zum vierten Wahlgang zu unterstützen. Mit 189 Abgeordneten haben sie zwar weniger als die EVP (217), doch auch die Konservativen waren abhängig von der Unterstützung anderer Fraktionen neben den Liberalen. Selbst, wenn es schließlich auch Europagegner und die Rechtspopulisten um Frankreichs Front-National-Chefin Marine Le Pen waren, die Tajani zum Sieg verhalfen: Wer am Ende für ihn gestimmt hat, kann man nicht mit Sicherheit sagen – die Abstimmung war geheim.
Der Präsident vertritt das Europa-Parlament nach außen und in seinen Beziehungen zu anderen Einrichtungen der EU. Auch an Gipfeltreffen mit europäischen Staats- und Regierungschef nimmt er zeitweise teil. Im Parlament leitet er Plenardebatten und sorgt dafür, dass die Geschäftsordnung eingehalten wird. Er wird für zweieinhalb Jahre - also die halbe Legislaturperiode - gewählt. Das monatliche Grundgehalt beträgt - wie das aller 751 Abgeordneten - knapp 8500 Euro vor Steuern. Hinzu kommen Zuschläge und Pauschalen. Um die Kosten etwa für Hotels und Verpflegung zu decken, bekommt jeder Abgeordnete pro Sitzungstag bei Anwesenheit 306 Euro. Der Präsident bekommt die Pauschale an jedem Tag des Jahres. Bei einem Monat mit 30 Tagen ergibt das 9180 Euro. Außerdem werden den Parlamentariern Reisekosten gezahlt, ebenso eine monatliche Pauschale - etwa für Bürokosten - in Höhe von 4320 Euro (Stand 2015). Das Plenum tagt in der Regel im ostfranzösischen Straßburg, die Ausschüsse arbeiten im belgischen Brüssel. Der scheidende Präsident Martin Schulz hat dem Posten in den vergangenen fünf Jahren mehr Profil verliehen. Der SPD-Politiker mischte sich stärker in aktuelle politische Debatten ein als viele Vorgänger, was ihm innerhalb des Parlaments aber auch Kritik einbrachte.