Die bisherigen 100 Jahre und die nationalsozialistische Unterbrechung.
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Meine Besprechung reflektiert die bisherigen "100 Jahre Republik Österreich", ein Werk, das dieses Jahr erschienen ist, unter Bedachtnahme auf die nationalsozialistische Unterbrechung. Die Herausgeber Harald Eberhard, Michael Holoubek, Thomas Kröll, Georg Lienbacher und Stefan Storr gaben den 14 Autoren als Gliederung drei exzeptionellen Begriffe, Kontinuität - Brüche - Kompromisse, mit auf den Weg. Die Beitragenden haben dieses visionäre, attraktive und konstruktive Konzept dogmatisch-analytisch jeweils eindrucksvoll zur Entfaltung gebracht.
Clemens Jabloner setzt die Entwicklung der Verfassung mit dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) 1920 und in einer dieser Kontinuitäten dessen Rezeption 1945 an. Die Öffnung der österreichischen Rechtsordnung gegenüber dem Unionsrecht betrachtet er als materielle Diskontinuität, und ein positives Ergebnis des Fiedler-Konvents ist für ihn die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 mit ihrer Verschiebung der Gewaltenbalance - in beidem seien Systembrüche verkörpert. Er widmet sich den "Institutionen" der "Realverfassung" und deren Einfluss ohne jede rechtliche Fundierung wie Ministerrat, Sozialpartnerschaft, "Ballhausplatz" und Landeshauptleutekonferenz; allesamt verfassungsrechtlich nicht existente, jedoch jeweils bestimmende Phänomene.
Jabloner kritisiert das Erscheinungsbild unserer Verfassung, der eine einheitliche Urkunde fehlt, und erinnert an das Diktum von Hans Richard Klecatsky, unsere Verfassung sei eine Ruine.
Das Recht der politischen Gemeinschaft als solcher
Für die höchst komplexen Ausführungen von Christoph Bezemek "Eine Annäherung über die Theorie und Methoden des öffentlichen Rechts" kann es auch nur von mir eine versuchte "Annäherung" an die Analyse von Bezemek geben. Um nicht anmaßend zu sein, wähle ich die Idee von Immanuel Kant als Ansatzpunkt, der das öffentliche Recht als System von Gesetzen für ein Volk sieht. Bezemek transformiert diesen Gedanken von Kant auf folgende Weise: "Das öffentliche Recht ist das Recht der politischen Gemeinschaft als solcher; es ordnet die Beziehung der Gemeinschaft und schafft darüber hinaus die Voraussetzungen für die Mitglieder, ihre Beziehungen untereinander zu ordnen".
Ähnliches, denke ich, gilt für Ewald Wiederin und "sein" Verfassungsbild, wobei er in seiner fundamentalen Kritik offenbar deshalb nicht weitergeht, um den Rahmen des Jubiläums nicht unangemessen zu verlassen. Er schließt mit einem Zitat von Robert Musil, der bekanntlich die Monarchie mit Kakanien verglichen hatte, das Durch- und Fortwursteln gelte auch für "Resterreich", denn damit sei nicht nur Kakanien, sondern auch die Republik Österreich ein kluger Staat.
Auch der bestechende Artikel von Thomas Jaeger, der die Kontinuitäten und Brüche der europäischen Integration Österreichs nuancierend darlegt, sowohl rechtlich als auch politisch, sprengt den mir vorgegebenen Rahmen. Ich beschränke mich auf den Hinweis auf das Judikat des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), in welchem die einstweilige Anordnung gegen die Durchführung der Umsetzung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) in Polen veranlasst wird. Die Wirksamkeit sowohl gegen Polen als auch in anderen Fällen wie etwa gegen Ungarn scheint mir jedoch aussichtslos.
Arno Kahl findet es zu Recht beeindruckend, wie sich Österreich auf dem Boden des B-VG in den 100 Jahren auf internationaler als auch auf europäischer Ebene positioniert und vernetzt hat.
Faszinierend finde ich, wie Magdalena Pöschl im Rahmen ihrer Ausführungen den Untertitel des Werkes erfüllt und plausibel konkretisiert, dass die wichtigste Kontinuität der Kompromiss ist, indem sie zwischen rationalem und emotionalem Zugang sowie zwischen außen- und innenpolitischen Erwägungen unterscheidet. Zu Brüchen kommt es immer dann, wenn die Innenpolitik gegenüber der Außenpolitik die Oberhand gewinnt, wenn Emotionen stärker wirken als die Nützlichkeit, und das Recht ins Hintertreffen gerät.
Georg Lienbacher beleuchtet im Rahmen des Untertitels des Werkes paradigmatisch das leitende Narrativ der Herausgeber. Für die Kontinuität führt Lienbacher als Beispiel den Bundesrat und dessen schwache Stellung als Kompromiss an.
Als Narrativ für die Brüche beruft sich Lienbacher auf die Landeshauptleutekonferenz und belegt Kontinuität durch Akzeptanz; für mich ein Beweis, dass die Realverfassung übermächtig ist - und daher letztlich antidemokratisch.
Migration einer Verfassungsidee
Anna Gamper definiert die Gewaltenteilung als Migration einer Verfassungsidee in Annäherung an eine Gewaltenverbindung oder Gewaltenverschränkung. Sie erinnert an James Madison, und ich vermeine ergänzend, dass dies schon Alexander Somek in der Festschrift für Alfred Noll analysiert hat. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) spricht vom rechtsstaatlichen Prinzip und dem Grundsatz der Gewaltentrennung sowie weiters kryptisch, dass das B-VG für die Abgrenzung der Staatsfunktionen ein organisatorisches Prinzip aufstellt. Daher meine Forderung, die Justierung der "checks and balances" permanent auszubauen. Sehr verdichtet sind Gampers Darlegungen zum Spannungsverhältnis VfGH und Verfassungsgesetzgeber und die Notwendigkeit für Ersteren, als positiver Gesetzgeber mangels Aktivitäten der Regierung zu Erkenntnissen zum Sterberecht und zu den Grundrechten in Zeiten einer Pandemie zu gelangen. Ich vermerke schon lange, dass die klassischen Medien wie eine vierte Gewalt agieren, was noch durch die Litigation-PR verstärkt wird; pro futuro werden wohl die intermediären Gewalten immer wirkungsvoller werden.
Harald Eberhard hat für den Rechtsstaat eine wunderbare Metapher, indem er sich diesen als Verfassungsgebäude vorstellt, und der VfGH der Innenarchitekt ist. 1994 wurden Teile des Gebäudes verändert, weil durch den EU-Beitritt eine Gesamtveränderung der Verfassung erfolgte. Das Gebäude neben unserem ist das der EU, und auch dieses hat einen Innenarchitekten, nämlich den EuGH.
Für Eberhard ist das Legalitätsprinzip die rechtsstaatliche Zentralnorm für die Kontinuität der Judikatur. Neben den Kontinuitäten scheinen Brüche auf, nämlich die zwölf Jahre Nationalsozialismus. Das dritte Leitmotiv wird als Austriacum bezeichnet, und damit wird unsere Demokratie auch als Konsensdemokratie qualifiziert. Gemäß Art. 133 Abs. 5 B-VG ist die Zuständigkeit zwischen VfGH und Verwaltungsgerichtshof vernormt.
Stefan Storr kritisiert schlüssig in seinem Beitrag zum Wirtschaftsrecht im Kapitel zur Verstaatlichung die Rechtsprechung des VfGH, unter anderem in Sachen Schoeller-Bleckmann. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg waren zwar die Grundrechte "noch ausbaufähig", damals lag keine klassische Konstellation der Grundrechte als Verteidigung der Bürger gegen den Staat vor, aber fast nur auf formale Aspekte abzustellen und kaum auf materielle, wäre heute undenkbar.
Der VfGH bezog sich auf den Gleichheitssatz, prüfte aber nicht näher, ob die Enteignung eines Unternehmens im Verstaatlichungsweg gerechtfertigt war. Weder der Wesensgehalt der Eigentumsgarantie noch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgte; auch die Höhe der Entschädigung spielte keine Rolle.
Nunmehr wird der VfGH die Möglichkeit erhalten, die Rechtsprechung der damaligen Verstaatlichung 1946 zu überprüfen, weil mir das Manuskript eines Werkes vorliegt, das die damalige Erledigung durch den VfGH rechtlich anprangert. Dieser "Schandfleck" wird durch die Geschädigten an die nunmehrigen Mitglieder des VfGH herangetragen, und nicht nur ich bin überzeugt, dass wegen der derzeitigen Qualität des VfGH durch die Kompetenz seiner Mitglieder sowie der schon sehr ausgereiften Grundrechtsjudikatur dieses Unrecht beseitigt werden wird.
Spannungsfeld dreier Grundrechtsordnungen
Ich schließe mit Michael Holoubek und den Grundrechten. Dieser versucht erfolgreich, im Lichte des Gesamtthemas in bewundernswerter Interaktion des Kanons der Grundrechte Herr zu werden und musste allein wegen des umfangreichen Materials auf hohem Niveau scheitern, ohne, dass er das vorgegebene Programm vernachlässigt hätte. Die Kontinuität ist im Vergleich zu anderen Staaten gegeben, der Bruch durch den Nationalsozialismus und der Kompromiss, indem apodiktisch bei der Schaffung jedes neuen Grundrechts auf die bevorstehende Kodifizierung verwiesen wird.
Holoubek analysiert das Spannungsfeld dreier Grundrechtsordnungen, nämlich des innerstaatlichen Grundrechtskatalogs, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) für den europäischen Grundrechtsschutz und der unionsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen der Grundrechtecharta. 1964 hat Österreich nach der Übernahme der völkerrechtlichen Verpflichtungen die EMRK zum innerstaatlichen Grundrechtskatalog erklärt. Holoubeks Resümee ist geteilt, insoweit optimistisch, weil die österreichische Judikatur ein tragfähiges Fundament errichtet hat. Insoweit pessimistisch, als er nicht überzeugt ist, ob sie auch in Zukunft alle schützen kann, die es notwendig haben, nämlich die Armen, Schwachen und die Fremden. Ich für meinen Teil baue auf unseren VfGH, den EuGH sowie die EMRK.
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