Abspaltungstendenzen wie in Schottland müssen keine Schwächung der EU bedeuten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Unter den Westeuropäern war die Aufregung vielleicht eine Spur größer. Denn dass Staaten zerfallen und neue entstehen, ist ihnen zwar als historische Tatsache bewusst, aber wohl weniger greifbar als in Ost- und Südosteuropa. Wie es ein EU-Diplomat veranschaulicht: "Westlich von München gab es nach dem Ersten Weltkrieg keine wesentliche neue Grenzziehung mehr." Östlich davon sehr wohl, und das auch noch in den letzten zehn, zwanzig Jahren. Mit unterschiedlichen Folgen: Während sich die Tschechen und Slowaken mehr oder minder gütlich trennten, brachte den Bürgern Jugoslawiens dessen Zerfall viel Leid. Die Unabhängigkeitserklärung Montenegros nahm Serbien zähneknirschend hin, jene des Kosovo erkennt es nicht an.
Die Debatte um eine mögliche Abspaltung Schottlands von Großbritannien wurde aber teilweise außerhalb jeder - über die Geschichte der Insel hinausgehenden - historischen Relation geführt, dafür in einem warnenden Ton, der Bilder vom Untergang der europäischen Gemeinschaft heraufbeschwor.
Doch was wäre der EU passiert, wenn sich die Schotten von den Briten abgeschnitten hätten? Zunächst wäre sie nicht einmal kleiner geworden, weil die Region in den kommenden eineinhalb Jahren sowieso noch Mitglied geblieben wäre. Und in der Zwischenzeit hätten die Verträge angepasst werden können, um einen weiteren Verbleib in EU zu garantieren. Oder Johannes Hahn, der künftige, für Erweiterungsverhandlungen zuständige EU-Kommissar, hätte mit Edinburgh Gespräche über eine neuerliche Aufnahme geführt. Diese Hürde hätten die Schotten wahrscheinlich mit Leichtigkeit genommen.
Dennoch sollte die Bedeutung des schottischen Referendums für die EU nicht unterschätzt werden. Zum einen, weil das Ereignis den Unabhängigkeitsbestrebungen anderer Gebiete wie Katalonien Auftrieb geben könnte. Zum anderen, da es einer Tendenz Ausdruck verleiht, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat. Mit einem erstarkenden Selbstbewusstsein pochen europäische Regionen auf mehr Autonomie.
Das bedeutet in erster Linie eine Schwächung des Zentralstaats.
Es gibt zahlreiche Gegenden, die sich von den Hauptstädten nur ungern sagen lassen, wie sie sich verwalten sollen - und Länder wie Österreich oder Deutschland kennen diese Debatten genau. Nun muss ebenfalls London Teilen des Königreichs mehr Selbstbestimmungsrechte einräumen.
Ob sich das auch auf eine höhere - die europäische - Ebene umlegen lässt, ist noch offen. Denn stärker werdende Regionen werden womöglich nicht umgekehrt Kompetenzen an Brüssel abgeben. Allerdings scheint die Botschaft in den EU-Institutionen langsam anzukommen: Der künftige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat bereits angekündigt, dass sich die EU um die "großen Angelegenheiten" kümmern werde. Was aber besser von den Regionen geregelt werden könne, sollen diese tun.
Völlig uneigennützig ist diese Überlegung nicht. Starke, auf ihre eigenen Interessen bedachte Nationalstaaten haben nämlich bisher den Gestaltungsraum der Kommission begrenzt. Noch mehr - erstarkte - Teile zu einem Ganzen zu vereinen, wird freilich auch nicht einfach.