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Konsum und Verzicht

Von Wolfgang Glass

Gastkommentare
Wolfgang Glass ist promovierter Politologe und lebt in Wien.
© privat

Frust in der Bevölkerung kann zum Problem für die Demokratie werden.


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Der Sommer ist da, und wer noch keine Reisepläne hat, schmiedet sie jetzt. Sich zu amüsieren und das Leben zu genießen, ist trotz der mittelprächtigen Aussichten wichtig und richtig. Eine der Hauptfragen der Zukunft wird sein, wie Menschen, die Verzicht nicht gewohnt sind, darauf reagieren, wenn er nötig wird. Das wird wohl vor allem den Mittelstand treffen. Kann man den Frust von 340 Tagen im Jahr mit 25 Tagen Urlaubsreise kaschieren? Zumal diese wahrscheinlich oft nicht nur puren Genuss darstellt, sondern eher Verzweiflung am Alltag, werbetechnisch gut verpackt. In der Regel werden Menschen zornig, wenn sie im Verzicht keinen Gewinn, sondern bloß Abstriche und einen persönlichen Abstieg sehen, den sie nicht durch Konsum ausgleichen können.

Der Grant kommt nicht sofort, aber wenn sich die Gelegenheit bietet. Extrempositionen werden in Demokratien nicht aus heiterem Himmel gewählt - sie bauen sich fürs freie Auge nicht immer sichtbar langsam auf. Demokratie funktioniert nur, wenn man mit sich und der Mitwelt halbwegs im Reinen ist und die eigenen Bedürfnisse kennt. Wer weiß, was ein zufriedenes Leben ausmacht, kann den eigenen Standort bestimmen und etwas verändern.

Geistige Landesverteidigung als Bollwerk der Demokratie

Die Frage, wie Menschen auf Engpässe reagieren, ist also demokratiepolitisch wichtig. Es wird zwar derzeit viel von Landesverteidigung gesprochen, aber kaum von der geistigen, meistens nur von der konventionellen. Kann eine Demokratie nach westlichem Vorbild überhaupt funktionieren, wenn die Strukturen sehr viel kosten und es in den vergangenen 30 Jahren de facto kein nennenswertes Wirtschaftswachstum gab? Wenn der Kuchen nicht mehr wächst, ändern sich die Spielregeln: Was die einen mehr kriegen, bekommen die anderen nicht mehr. In den USA gab es die vergangenen 270 Jahre ein konstantes Wachstum. In Europa herrschte schon in den 1930er Jahren Stagnation. Die jüngste Innovation, das Smartphone, ist auch schon wieder eine Weile her. Selbstfahrende Autos gab es bereits 1920 und 1950 - heute bewirbt man sie zwar als topmodern, unterwegs sind sie aber nicht.

Wäre Gleichmacherei die richtige Antwort auf einen nicht mehr wachsenden Kuchen? Wohl kaum. Je horizontaler eine Gesellschaft, desto stärker nehmen Neid und Konfliktpotenzial zu. Dadurch, dass wir wohl fast alle in nächster Zeit Federn lassen müssen, kommt noch die Sündenbock-Komponente dazu. Wer sich ständig zurückgesetzt fühlt, macht immer andere dafür verantwortlich: Eltern, Freunde, Nachbarn, Staat - nur nicht sich selbst. Wenn das für eine Mehrheit Schule macht, dann wird es brenzlig.

Durch das Tempo der Ereignisse der vergangenen zehn bis zwanzig Jahre - und die Abstände zwischen einschneidenden Veränderungen werden wohl noch kürzer - muss der Einzelne wieder mehr Selbstverantwortung übernehmen. Veränderungen brauchen aber Zeit, und es gibt keine Garantie für einen erfolgreichen Ausgang. Genau deshalb muss man experimentieren, möglichst zeitnah, als Staat, aber auch als Individuum. Die Rundumabsicherung ist passé.

Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Grundbedingungen moderner Gesellschaften, also die freiheitliche demokratische Ordnung, auf einem anderen Stoffwechsel aufbauen - einem, der tatsächlich Nachhaltigkeitsstandards erfüllt. Das beginnt damit, sich als Einzelner auf gedankliche Veränderungen einzulassen, Schritt für Schritt. Man soll vom Reden ins Tun kommen - aber bei sich selbst beginnen und nicht alle anderen für die eigene Misere verantwortlich machen. Damit dabei das System der Demokratie nicht gegen eine Art Gedanken-Diktatur eingetauscht wird, ist es wichtig, offene Fragen zu stellen, um selbständiges Denken anzuregen. Schließlich ist jeder Mensch einzigartig und soll auch dementsprechend seine eigenen Bedürfnisse kennenlernen. Es geht nicht darum, in einer Art Schachteldenken die eine Lösung parat zu haben - so entsteht nie Neues.

Streben nach Glück führt ins Unglück

Selbstoptimierung durch ständige Vergleiche und das Streben nach einem glücklichen Leben führen zwangsläufig ins Unglück. Neben dem Zufallsglück gibt es das Wohlfühlglück, das wir am liebsten festhalten wollen. Die Vorstellung vom perfekten Urlaub wäre ein Beispiel dafür. John Locke hat diese Definition schon 1690 vorgenommen: Die Natur habe dem Menschen das Streben nach Glück und den Widerwillen gegen das Leid eingepflanzt. Demnach bedeute Glück größtmögliche Lust - die Grundlage der modernen Spaß- und Erlebnisgesellschaft.

Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Es muss aber auch klar sein, dass dieses Glück nicht dauerhaft sein kann. Es gibt Niederlagen, und es wird immer jemand anderer mehr haben. Es gibt die gute Stunde, glückliche Augenblicke, für die sich der Einzelne öffnen kann. Und es ist die Klugheit des Herzens, die einen davor bewahren kann, das ganze Leben mit einem einzigen Wohlfühlglück zu verwechseln. So stellte Johann Wolfgang von Goethe fest: "Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen."

Wenn die Begriffe, mit denen heute Glück jungen Menschen via Medien und Erzählungen definiert wird, einen zu hohen Maßstab an das Leben festlegen, dann kann man eigentlich nur scheitern. Der moderne Begriff eines Glücks, das man zu erreichen hat, treibt letztlich ins Unglück. Man sollte sich selbst besser kennen, um nicht ob der vielen Reize die Orientierung zu verlieren.

An sich suchen alle Menschen zwei Dinge: Dazugehören (verbunden sein) und einzigartig (frei) sein. Letzteres ist für den einen ein Porsche in der Garage, für den anderen ein spezielles Hobby. Das Dilemma besteht darin, die beiden Dinge gleichzeitig haben wollen. Hinzu kommt das enorme Tempo der Entwicklungen, der Meinungen (auch via Social Media), der Ratgeber, die auf uns einprasseln. Neben der biologischen Familie wächst die soziale.

Sich selbst zu hinterfragen, eigene Fehler (und nicht nur die von anderen) zu sehen, löst das Dilemma. Wer sich über die Probleme des Lebens freut, kann sich dadurch weiterentwickeln. Es geht nicht darum, das richtige Leben zu haben, sondern um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Dasein, damit sich Zufriedenheit einstellen kann. Wer sich nie mit sich selbst beschäftigt und zur Ruhe kommt, kann nur auf die Außenwelt reagieren, aber nie agieren. Durch Fragestellungen wird die Zukunft mit der Realität verbunden, und es entstehen Raum und Zeit für Reflexion.

Wer an die Zukunft denkt, betrachtet auch gleich die Realität samt möglichen Problemen - und wie man ihnen begegnen könnte. Daraus können 340 gute Tage voll Zuversicht entstehen, ab und zu vielleicht auch ein bisschen Grant, aber vor allem Zufriedenheit. Der Urlaub muss dann nichts mehr kaschieren.