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"Kontraste fördern die Erholung"

Von Dagmar Weidinger

Reflexionen
Der Umweltpsychologe Eike von Lindern.
© Dialog N

Der Umweltpsychologe Eike von Lindern über die wichtigsten Erkenntnisse seines Fachs im Hinblick auf Urlaub und Entspannung.


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"Wiener Zeitung": Herr von Lindern, Sie sind "Umweltpsychologe": Täusche ich mich oder hat die Psychologie die Natur erst in den letzten Jahren als Forschungsgebiet für sich entdeckt? In den meisten psychologischen Disziplinen wird die materielle Umwelt nur am Rande thematisiert, es stehen häufiger kognitive Prozesse oder soziale Interaktionen im Vordergrund.

Eike von Lindern: Tatsächlich ist die Thematisierung von Umwelt in der Psychologie ein sehr altes Thema. Der Arzt und Psychologe Willy Hellpach, ein Schüler Wilhelm Wundts, der als Begründer der Psychologie gilt, verfasste bereits 1911 eine Abhandlung dazu, wie Klima, Wetter und Landschaft das menschliche Seelenleben und Wohlbefinden beeinflussen. Auch setzten sich Gestaltpsychologen Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Frage auseinander, wie durch Sinneswahrnehmung ein stabiles Bild der Umwelt vermittelt werden kann. Die Umwelt hat also sehr wohl eine lange Tradition in der Psychologie. Allerdings haben Sie Recht, dass der Umweltgedanke in der "neueren" Psychologie selten große Beachtung findet.

Trotzdem sind Lehrstühle für Umweltpsychologie nach wie vor rar. Sie selbst haben ja auch - anstatt sich für eine Professur zu bewerben - das unabhängige Forschungsinstitut "Dialog N" in Zürich gegründet. Wie erklären Sie die Tatsache, dass die Umweltpsychologie universitär unterrepräsentiert ist?

Ein Grund kann darin liegen, dass die Umweltpsychologie sehr anwendungsorientiert ist. Im Zentrum steht der Mensch in seinem "natürlichen Lebensraum", mit allen Störeinflüssen, die es im realen Leben gibt. Dabei fällt es schwer, genaue Ursache-Wirkung-Prinzipien festzulegen, da wir so gut wie nie in kontrollierten Laborumgebungen forschen, in denen wir alle Einflüsse konstant halten können (Temperatur, Lautstärke, Wind, andere Ablenkungen). In der typischen universitären Forschung ist jedoch genau diese Art der internen Validität gefragt. Ein anderer Grund für die geringe Sichtbarkeit der Umweltpsychologie mag darin liegen, dass sie sehr interdisziplinär funktioniert. Es handelt sich um ein Zusammenspiel von Architektur, Stadtplanung, Biologie, Geographie, Akustik und Medizin. Dazu kommt noch die grobe thematische Aufteilung in die "Umweltschutzpsychologie" und den Bereich der "erholungsförderlichen Umwelten".

Das Thema der "erholungsförderlichen Umwelten" dürfte gerade in der Sommerzeit viele Menschen interessieren. Zumindest medial gewinnt die Frage nach der Erholung in der Natur zunehmend an Bedeutung. Zahlreiche Publikationen haben zuletzt den Wald besonders ins Zentrum gerückt. Was sagt die Umweltpsychologie: Ist wissenschaftlich überhaupt nachgewiesen, dass sich der Mensch in der Natur besser erholt als in der Stadt?

Dazu gibt es zwei klassische Theorien: die Psychophysiologische Stressreduktionstheorie von R. Ulrich und die Attention Restoration Theorie von R. und S. Kaplan. In zweiterer geht es um die "Erholung" erschöpfter kognitiver Ressourcen für die Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und für selbstregulative Fähigkeiten. Die kognitiven Ressourcen jedes Menschen ermüden im Verlauf des Tagesgeschehens, da wir uns konzentrieren müssen, um das zu erledigen, was wir erledigen wollen oder müssen. Sind die Ressourcen nach einer gewissen Beanspruchung erschöpft, werden wir müde, schweifen ab oder reagieren auf "Störungen" häufig gereizt oder aggressiv. Auch steigt das Stresserleben an, da wir gefühlt nicht mehr die Energie haben, mit "Stressoren" adäquat umzugehen.

Finden wir nun keine Ruhe und Erholung, kann das zu einem chronischen Zustand werden, mit sehr negativen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden, z.B. eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten, Burn-out, Tumorwachstum, Herz-Kreislauferkrankungen, eine allgemein erhöhte Mortalität etc. Dadurch entsteht auch ein volkswirtschaftlicher Schaden in Milliardenhöhe, der mittlerweile auch von Krankenkassen und Konzernen thematisiert wird. Die Attention Restoration Theorie geht nun davon aus, dass uns Umwelten, die wir als kohärent, intuitiv verständlich und kompatibel zu dem, was wir gerade machen, erleben, gut tun.

In anderen Worten: Umwelten, die uns faszinieren und uns das Gefühl vermitteln, weit weg vom Alltag zu sein, initiieren aktiv psychologische Prozesse zur Erholung erschöpfter kognitiver Ressourcen. Das geschieht hauptsächlich dadurch, dass wir in solchen Umwelten keine "direkte Aufmerksamkeit" brauchen, da sich fast alles intuitiv ohne Konzentration erschließt. Unsere Aufmerksamkeit wird durch Umweltreize geleitet, wir verlieren uns in dem, was uns umgibt. Dadurch können die Ressourcen ruhen, die wir sonst im Alltag benötigen, um unsere Ziele zu verfolgen und um ablenkende Reize auszublenden, z.B. Hintergrundmusik, die uns bei einem Gespräch stört.

Gibt es so etwas wie die ideale Erholungslandschaft überhaupt?

Viele Studien zeigen, dass es in relativ naturbelassenen Umwelten schneller und besser zu Erholungsprozessen kommt als in urban geprägten Umwelten. Daher herrscht oft die Meinung vor, dass "Natur" und Wald uns an sich gut tun. Das ist allerdings nur die "halbe Wahrheit", denn es zeigt sich in neueren Studien auch, dass zum Beispiel körperliche Aktivität eine große Rolle spielt: Je physisch aktiver ich in meiner Freizeit bin, desto besser erholt fühle ich mich auf psychischer Ebene. Außerdem lassen sich "Naturerleben" und ein gewisses Mindestmaß an Aktivität selten in der Realität trennen, sodass die Erholungseffekte oft eine Kombination aus mehreren Faktoren sind.

Darüber hinaus kann die jüngste Forschung auch zeigen, dass das Erleben von Kontrasten zwischen den Lebensbereichen, in denen wir mit Stress und Herausforderungen konfrontiert sind, und solchen Bereichen, die wir zur Erholung nutzen, einen starken Einfluss auf das Erholungserleben haben: Je stärker die Kontraste sind, desto besser erholen wir uns. Und umgekehrt: Wenn wir in einer noch so schönen und prinzipiell erholungsförderlichen Umwelt sind, aber aus irgendeinem Grund keinen Kontrast zum Stress erleben, setzt auch keine psychische Erholung ein. Fühle ich mich durch intensive Herausforderungen im Sozialleben, etwa durch Partnerschaftsprobleme gestresst und ermüdet, hilft beispielsweise Schlaf nicht unbedingt. Ein Kontrasterleben im sozialen Bereich wäre hier vermutlich erholungsförderlicher, etwa Zeit mit Freunden verbringen, um Kraft zu schöpfen und Herausforderungen aktiv angehen zu können.

Ein Waldspaziergang ist also sicher kein Fehler, aber auch kein Allheilmittel gegen Stress, wenn ich Sie richtig verstehe. Dennoch gibt es mittlerweile viele Urlaubsorte, die sich als besonders gesundheitsförderlich verkaufen. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung? Ist das seriös?

Jein. Ich denke, dass ein Marketing als "gesundheitsförderliche Region" in dem Sinne seriös ist, wenn es eine Einladung an Personen ist, die vielleicht nicht von sich aus auf die Idee gekommen wären, einen Urlaub im Grünen zu verbringen. Aussagen, wie "Hauptsache so naturnah wie möglich", "fernab der Zivilisation", "in Savanne-ähnlichen Landschaften mit Wasserelementen", "Wald und Grün" etc., auf die wir in der Werbung immer wieder stoßen, sind mir aber zu reduktionistisch, da sie das "psychologische Individuum" außer Acht lassen. Schließlich hängt es ja auch von diesem ab, was ein besonderer, erholungsförderlicher Ort ist: Ein Hobby-Vulkanforscher wird vermutlich wochenlang fasziniert den Vesuv bestaunen können, während andere Personen nach zehn Minuten bereits genervt lieber den Strand aufsuchen möchten, was der Vulkanforscher wiederum als wenig erholungsförderlich empfinden dürfte.

Und natürlich wäre es falsch, grundsätzlich allen Menschen einen Naturaufenthalt als das Non-Plus-Ultra an Erholung zu unterstellen. Diejenigen, die keinerlei Bezug zur Natur haben oder gar negative Erinnerungen oder Ängste mit Natur assoziieren, sind mit anderen Settings sicher besser beraten.

Hierbei habe ich jetzt generell Aspekte wie Luft- oder Wasserqualität außer Acht gelassen. Werden diese betrachtet, gibt es selbstverständlich Regionen, in denen weniger Belastungen und Stressoren erlebt werden, etwa was Lärm, Chemikalien, Feinstaub etc. angeht. In diesem Sinne sind möglichst naturnahe Umwelten mit Sicherheit im Durchschnitt förderlicher für Gesundheit und Wohlbefinden als eine mit Feinstaub und Lärm überflutete Stadt. Hier müssen wir also auch zwischen psychischer und physischer Gesundheit unterscheiden.

Nun habe ich die für mich ideale erholungsförderliche Umwelt für den Urlaub gefunden und bin zwei Tage nach der Rückkehr trotzdem wieder gestresst - kann mir die Psychologie da weiterhelfen?

Ein großes Problem, das wir bei Urlauben immer wieder haben, ist, dass während des Urlaubs zwar Erholung und psychologische Distanz erlebt werden, doch bereits wenn die "Rückreise" bevorsteht, kommen wieder Gefühle von Stress und Belastungen auf. Das hängt damit zusammen, dass wir genau wissen, was uns erwartet, um es einmal salopp zu formulieren. Sei es der Stau auf der Autobahn, das Anstehen am Flughafenterminal oder die Verspätung bei der Bahn. Und natürlich die vollständige Rückkehr in den Alltag. Urlaub stellt in diesem Sinne ein "Extremereignis" dar und kommt im Vergleich zum Alltag eher selten vor, daher ist die Erholungswirkung eines Urlaubs in den vorherrschenden psychologischen Theorien nur unzureichend bzw. gar nicht enthalten - zumindest was eine Langzeitwirkung für den Alltag angeht.

Aber natürlich können Urlaubserinnerungen auch im Alltag helfen, sich kurzfristig weit weg zu fühlen und in eine andere Welt einzutauchen. Prinzipiell wird dies auch in der Forschung zu Meditation und bei Achtsamkeitstrainings thematisiert, wo sich Personen zum Teil ihren Lieblingsort als "Ort der Ruhe und Kraft" vorstellen, um neue Kraft für den Alltag zu sammeln.

Eike von Lindern, geboren 1977 in Wildeshausen (Deutschland), ist promovierter Umweltpsychologe und Co-Geschäftsführer des unabhängigen Forschungs- und Kommunikationsbüros "Dialog N" in Zürich. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich erholungsförderliche Umwelten, Gesundheitsförderung und Wildnis-Erleben sowie in der Nachhaltigkeits- und Kommunikationsforschung.

Dagmar Weidinger, geboren 1980, Kunsthistorikerin, schreibt als freie Journalistin für österreichische Zeitungen und Magazine.