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Kontrollverlust als Wahlmotiv

Von Reinhard Heinisch

Reflexionen

Studien zeigen, wie stark Emotionen und Bauchgefühl unser politisches Handeln beeinflussen.


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Kann es sein, dass die politische Einstellung einen Einfluss darauf hat, ob man sich von Corona in seiner Gesundheit beeinträchtigt fühlt? Es kann! Wer ist motivierter, zur Wahl zu gehen? Diejenigen, die sich über ihr niedriges Einkommen ärgern, aber das System dennoch für gerecht halten, oder Einkommensschwache, die die Verhältnisse als ungerecht empfinden? Subjektive Einschätzungen, Emotionen, Bauchgefühl und sogenannte kognitive Abkürzungen beeinflussen unser politisches Handeln.

Psychologische Faktoren sind nicht nur in der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch in der Politikwissenschaft längst ein Thema. Doch die Erfolge neuer radikaler Parteien und neuer Politikertypen, die mit bisherigen Ansätzen schwerer zu erklären sind, haben die Aufmerksamkeit des Faches noch viel stärker auf diese Bereiche gelenkt. Klassische Erklärungen des politischen Verhaltens gingen stets von einer letztlich rational utilitaristischen Handlungslogik aus. Mit anderen Worten: Die Bürger würden letztlich vor allem ihren ökonomischen Interessen folgen und Politiker wählen, von denen sie sich Wohlstandsvorteile versprechen.

Natürlich waren Faktoren wie Führungsqualitäten, Kompetenz und Sympathie nicht unbedeutend, dennoch konnten früher die Wähler aufgrund ihres sozio- demografischen Profils nach ihren Interessen in große Blöcke eingeteilt und bestimmten Parteien und Kandidaten zugeordnet werden.

Politische Psychologie

Spätestens seit die sogenannten Wutbürger durch die deutsch-österreichische Medienlandschaft geisterten, begannen sich auch Öffentlichkeit und Politik mit dieser Thematik der politischen Psychologie stärker auseinanderzusetzen. Dass gerade der radikale Populismus auf diese Form der Mobilisierung durch Emotionen zurückgreift, wurde in vielen Untersuchungen von Texten, Diskursen oder programmatischen Positionen empirisch belegt, etwa von der österreichisch-britischen Sprachsoziologin und Diskursforscherin Ruth Wodak.

Auch die theoretische Erklärung, warum Emotionen Menschen veranlassen, sich für radikale Parteien zu entscheiden, ist kein großes Rätsel mehr. Vereinfacht ausgedrückt: Die großen Umwälzungen, die sich weltweit auf der Makroebene abspielen, wie Globalisierung und technologische Modernisierung sowie der daraus resultierende Strukturwandel, wirken bis auf die individuelle Ebene. Dort lösen sie einen Anpassungsdruck aus. Je nach den verfügbaren Ressourcen oder der psychologischen Konstitution gelingt es den Menschen manchmal besser, manchmal schlechter, diese Anpassungen vorzunehmen. Bei weniger anpassungsfähigen, ressourcenarmen oder psychisch rigiden Personengruppen führt der Veränderungsdruck tendenziell zunächst zu Stress und später zu Frustration. Dies kann schließlich in Wut oder Aggres- sion umschlagen oder Ängste auslösen, die mit entsprechenden Botschaften politischer Akteure in eine bestimmte Richtung gelenkt werden können. Die vielen Krisen unserer Zeit verstärken diesen Leidensdruck.

Emotionen sind physiologische Reaktionen im menschlichen Körper auf externe Ereignisse. Sind diese Auslöser politischer Natur, sprechen wir von politisch bedingten Emotionen. In der Regel sind erlebte Ereignisse jedoch von ihrer Bedeutung her diffus und nicht per se politisch konnotiert: Ein Sturm ist zunächst einfach ein Wetterphänomen, eine Flüchtlingskrise die Folge natürlicher oder menschengemachter Umstände - und ein Virusausbruch ist unpolitisch. Erst durch ein entsprechendes politisches Framing (Deutung), Cueing (Signalisieren) oder Konditionieren werden Ereignisse mit einer politischen Symbolik aufgeladen, die dann im politischen Wettbewerb instrumentalisiert werden können. Auf diese Weise entsteht eine Verbindung zwischen Emotion und politischer Parteienpräferenz.

Die Weigerung, eine Maske zu tragen oder sich trotz der Empfehlungen von Experten impfen zu lassen, wird zu einem politisch symbolischen Akt, der für andere irrational erscheint, für den Betroffenen aber als eine Art Widerstand gegen eine neue, von den Machteliten geschaffene Welt interpretiert wird. Auch die Ablehnung großer Gruppen in den USA, selbst minimale Verschärfungen der Waffengesetze zu akzeptieren, erklärt sich unter anderem aus ähnlichen Motiven.

Allerdings war es lange Zeit schwierig, die theoretischen Kausalbeziehungen empirisch zu belegen. Schließlich muss man die Wirkungen so isolieren und messen, dass bestimmte Ursachen, wie zum Beispiel emotionale Gefühle, eindeutig einem beobachtbaren politischen Verhalten, wie Wählerentscheidungen, zugeordnet werden können.

Das Problem ist, dass Wähler Parteien und Kandidaten aus vielen Gründen wählen. Oft genug sind solche Entscheidungen sehr spontan oder beruhen auch auf Zufälligkeiten. In jedem Land sind außerdem die Verhältnisse etwas anders und gleiche emotionale Erlebnisse können zu unterschiedlichen politischen Reaktionen führen, weil etwa im einen Land der zur Wahl stehende Populist Donald Trump heißt und in einem anderen, etwa in Deutschland, eine entsprechende nationale populistische Führungsfigur fehlt.

Lange mangelte es auch an der Verfügbarkeit von entsprechenden Umfragedaten. Zwar gab es verschiedene Länderstudien, doch in der Regel fehlten große länderübergreifende Umfragen. Diese wiederum sind kostspielig, gilt es doch trotz aller sprachlichen und kulturellen Barrieren analoge Inhalte zu vergleichbaren Bedingungen in möglichst vielen Bevölkerungen abzufragen. Des Weiteren gibt es gerade in der Umfrageforschung zu sensiblen, aber abstrakten Themen zunehmend Pro-bleme mit Antwortverweigerung oder sozial erwünschtem Antwortverhalten.

Daher bedarf es oft neuer Umfragetechniken wie Umfrageexperimente oder innovative Frageformulierungen, die stärker den Sprachgebrauch von Nichtexperten berücksichtigen. Neue innovative Forschung basiert auch darauf, dass Befragte mit hypothetischen politischen Szenarien konfrontiert werden, wobei Personen dann auf ihre Reaktionen hin analysiert werden.

Verbesserte Methodik

Das österreichische Corona-Panel-Projekt hingegen verwendet dieselbe Stichprobe von 1.500 Personen in mehreren aufeinanderfolgenden Wellen auf der Grundlage der soziodemografischen Struktur der österreichischen Bevölkerung und kann daher Veränderungen im Laufe der Zeit genau verfolgen. Durch die verbesserte Methodik und neue Daten lassen sich die Auswirkungen von Emotionen wie Wut, Sozialneid und Ressentiments etwa auf die Wahlpräferenzen für radikale Parteien sukzessiv besser dokumentiert. Auch die politische Steuerung von Emotionen durch politisches Framing und Signalisieren durch Parteien lässt sich inzwischen gut belegen.

Eine interessante, aber weniger offensichtliche Verkettung von Emotion und politischer Reaktion wird durch Ohnmachtsgefühle ausgelöst. Konkret handelt es sich um das Erleben eines Kontrollverlustes, also das empfundene Unvermögen, Personen und Umstände beeinflussen zu können, die auf einen selbst, die eigenen Präferenzen und das eigene Wohlbefinden eine Auswirkung haben. Dieser emotionale Zustand ist zunächst einmal unpolitisch und wird individuell unterschiedlich erlebt, hängt aber indirekt auch mit politischen Deutungen in einer Gesellschaft zusammen. Wird die persönliche Verunsicherung durch die politische Thematisierung etwa von Ausländerkriminalität verstärkt oder sprechen populistische Diskurse von den "arroganten Eliten", denen die essenziellen Bedürfnisse notleidender Personengruppen egal seien, so wird der empfundene Kontrollverlust sehr wohl politisch verstanden und gedeutet.

Dies lässt sich auch empirisch belegen, denn die Europäische Wertestudie 2017, eine Umfrage in zahlreichen europäischen Ländern, enthält eine Frage, die genau auf die wahrgenommene Machtlosigkeit abzielt, aber keinerlei politische Konnotation enthält. Nichtsdestotrotz können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit statistisch vorhersagen, welche Parteien Menschen mit subjektivem Kontrollversagen wählen werden. Dies gilt nicht nur für einzelne Länder, sondern für die Gesamtheit der Wähler und das Gros aller populistischen Parteien in Europa.

Das Populisten-Paradox

Listet man beispielsweise alle Parteien in Europa nach dem Anteil jener Wähler auf, die meinen, keine Kontrolle mehr über ihr Leben zu haben, so liegen die populistischen Parteien anteilsmäßig deutlich vor den anderen Parteien. Interessanterweise betrifft dieser Effekt sowohl rechtspopulistische als auch linkspopulistische Parteien, wobei der Effekt bei Ersteren größer ist. Kontrollversagen ist nicht nur ein eindeutiges Motiv, sich für eine radikalpopulistische Partei zu entscheiden, sondern es macht auch bestehende radikale Einstellungen noch extremer. So lässt sich statistisch gut zeigen, dass auf diese Weise einwanderungsfeindliche Haltungen massiv verstärkt werden.

Es scheint dennoch paradox, dass Menschen, die aufgrund zu vieler Umwälzungen ohnehin bereits glauben, unter einem Mangel an Kontrolle zu leiden, ausgerechnet Parteien wählen, die radikale Veränderungen versprechen. Doch genau hier setzt die zentrale Botschaft der Populisten an, die analog zu Trumps "Make America great again" verspricht, dass mit ihnen die Zukunft wieder eher der Vergangenheit als der Gegenwart ähneln wird. Populismus verspricht einen Wandel hin zu Vertrautem, wo alles seinen gewohnten Platz hat. Sie schaffen so den Spagat zwischen dem Versprechen auf Veränderung, also der Erlösung aus einem untragbaren Ist-Zustand, und dem Versprechen nach mehr Sicherheit.

Auf diese Weise sprechen sie erfolgreich die natürlichen Ängste der Menschen vor Veränderungen an, insbesondere bei der Wählergruppe, die am wenigsten in der Lage ist, sich zu wandeln, aber für Populisten am wichtigsten ist. Gerade in unsicheren Zeiten sprechen die Botschaften vom Populisten gezielt das Sicherheitsbedürfnis der Menschen an. Nicht zufällig plakatiert die FPÖ derzeit den Slogan "Festung Österreich: Grenzen schließen, Sicherheit garantieren".

Reinhard Heinisch, geboren 1963 in Klagenfurt, viele Jahre Professor an der University of Pittsburgh, ist seit 2009 Leiter der Abteilung Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.