Der Biomathematiker Martin Nowak über Zusammenarbeit und die Rolle von tödlichen Viren wie Ebola in der Evolution.
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"Wiener Zeitung": Mutation und Selektion sind die Eckpfeiler der Evolution. Sie, Herr Nowak, haben Charles Darwins Theorie den Faktor Kooperation hinzugefügt. Welche Rolle spielt diese in der Evolution?
Martin Nowak: Meine Arbeit der letzten 20 Jahren hat gezeigt, dass man zusammenarbeiten muss, damit in der Biologie etwas Kompliziertes herauskommen kann. Bei der Entstehung der ersten Zelle, der Vielzeller, der sozialen Insekten, Tiere und Menschen war Kooperation ganz wesentlich. In der Evolution muss allerdings eine Balance herrschen zwischen Kooperation und Konkurrenz. Es gibt keine kooperative Utopie, weder für Menschen noch Tiere noch Zellen, denn Kooperation ist nie ganz stabil. Wenn eine Gruppe sich immer auf das Beste für alle einigen würde, würde sie Gefahr laufen, dass irgendjemand irgendwann das System ausnützt, und dann würde es mit der Zeit zerbrechen. Wir beschäftigen uns mit der Frage, mit welchen Mechanismen natürliche Selektion zu Kooperation führt. Diese Mechanismen haben alle die Eigenschaft, dass sie Kooperation erzeugen, aber sich nicht beliebig lang stabilisieren können - es gibt immer nur Zyklen.
Hat Instabilität selbst einen Vorteil?
Vielleicht, aber so weit bin ich noch nicht. Was wir aber wissen, ist, dass die Evolution nichts Neues hervorbringen kann. Nehmen wir an, sie will Bakterien erzeugen, die auf der Basis von chemischen Reaktionen Energie produzieren. Nehmen wir weiters an, es gibt bereits gewisse chemische Reaktionen, auf der sie aufbauen kann, dass ihr jedoch die nötigen Enzyme fehlen. Wie lange brauchen die Bakterien, um diese Enzyme zu finden - also eine Funktion zu entdecken, die es noch nicht gibt? Das ist eine hochinteressante Frage, weil den Evolutionsbiologen bisher die mathematischen Werkzeuge fehlten, um sie zu beantworten.
Kollegen vom Institute of Science and Technology Austria und ich konnten nun erstmals zeigen, dass es so gut wie unmöglich ist für die Evolution, ein völlig neues Enzym zu entdecken, weil die Zahl der einzelnen Schritte, die dazu nötig sind, höher wäre, als es Bakteriengenerationen seit Beginn des Lebens gibt. Wenn Bakterien eine neue Energiequelle erschließen wollen, müssen sie auf vorhandenen Lösungen aufbauen. Sie kopieren die DNA und versuchen, mit ein paar kleinen Veränderungen das neue Werkzeug zu generieren. Wenn die Evolution diesen "Re-Generation Process" immer wieder neu probiert, erreicht sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nach einer Weile den Zielzustand. Evolution löst somit ein Problem, indem sie eine kleine Abwandlung von etwas macht, was sie bereits gelöst hat.
Wie erklärt es sich dann, dass manche Dinge sehr schnell gehen? Krebszellen werden sehr rasch gegen Medikamente resistent.
Eine neue Krebsbehandlung funktioniert am Anfang sehr gut. Der Krebs ist aber innerhalb von 24 Wochen resistent, weil die Krebszellen kein neues Werkzeug benötigen, um sich gegen die Behandlung zu wehren. Die Behandlung ist wie ein Schlüssel, der ins Schlüsselloch passt. Die Krebszelle muss nur das Schloss ein klein wenig verändern, damit das Medikament nicht mehr durchkommt: Die richtige Punktmutation reicht, um die Behandlung unwirksam zu machen, und diese Fähigkeit ist in tausenden Krebszellen bereits vorhanden.
Geht die Krebsmedizin in die falsche Richtung?
Nein, im Gegenteil, es ist eine Revolution im Gang, die auch mit Kooperation zu tun hat. Krebs ist nämlich der Zusammenbruch der Kooperation, weil die Zellen mutieren und nur noch das primitive Programm fahren, sich zu teilen - was eine natürliche Konsequenz der Tatsache ist, dass wir aus Zellen bestehen, die sich teilen, um die Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Ein Nebenprodukt dieses Designs ist, dass Mutationen die Zellen egoistisch machen, und das führt zum Zusammenbruch.
Wie erklären Sie die Verbreitung des tödlichen Ebola-Virus? Leben wir in Zeiten des Zusammenbruchs?
Intelligentes Leben ist ein Evolutionsschritt, der so wichtig ist wie die Entstehung des Lebens selbst. Mit dem Menschen hat die Evolution die menschliche Sprache entdeckt. Diese führte zu einer anderen Art der Evolution, die nicht nur genetisch, sondern auch kulturell bedingt ist. Der Prozess ist einer der menschlichen Kommunikation, des Lernens und der Verbreitung von Ideen. Die kulturelle Evolution ist schneller als die ursprüngliche, genetische Evolution, deswegen sind wir auch so anpassungsfähig: Wir Menschen haben in kurzer Zeit die Erde unterworfen und jedes Ökosystem erobert.
Wir können heute überall wohnen und mehr oder weniger alles zerstören. Das führt zu Instabilität, weil alles so schnell geht und weltweit passiert. Gerade weil wir biologisch so erfolgreich sind, gibt es Viren, die nur darauf warten, uns zu infizieren und sich so zu verändern, dass wir uns nicht gegen sie wehren können. Wenn ihnen das gelingt, wird es eine Explosion dieser Viren geben, weil unsere Biomasse so groß ist.
Auch der Mensch praktiziert das Gegenteil von Kooperation. Wie erklären Sie sich das Phänomen der dschihadistischen Terrorkrieger, die alles niedermetzeln?
Das ist die innere Zerstörung des Menschen, weil wir es nicht schaffen, permanent zu kooperieren. Um die nächsten 100 Millionen Jahre zu überleben (die Dinosaurier lebten 140 Millionen Jahre, Anm.), wird Kooperation auf globalem Level jedoch zur Überlebensfrage. Heute muss ich nicht nur mit meinen Freunden, meiner Familie und meiner Gemeinde kooperieren, sondern mit allen auf der ganzen Welt. Die Bewältigung des CO2-Problems ist deswegen so kompliziert, weil sie von uns einen Preis fordert, von dem andere profitieren, die überall verteilt sind. Das ist sehr viel verlangt, zumal es schwer genug ist, mit Menschen zu kooperieren, die wir jeden Tag sehen. Wenn nun der Rahmen weltweit ist und sich auf künftige Generationen ausdehnt, ist es noch schwieriger. Die Kooperation mit der Zukunft ist jedoch total erforderlich für die Stabilität des intelligenten Lebens.
Werden wir die Geister, die wir mit der kulturellen Evolution riefen, nicht mehr los?
Ich weiß es nicht. Sicher ist, dass sehr viele unserer Reaktionen dem modernen Leben nicht optimal angepasst sind und manche unserer Instinkte und Intuitionen aus Lebensumständen stammen, die nicht unserer jetzigen Gesellschaft entsprechen. Ein Beispiel: Wie jedes Tier sind auch wir nicht in der Lage, mit einem Überangebot an Nahrung umzugehen. Wenn es zu Essen gibt, essen wir. Für kein Tier wäre es jemals besser gewesen, nicht zu essen, weil es kein Überangebot an Nahrung gab. Hätte es das gegeben, gäbe es mehr Tiere. Also häufen wir ständig den Teller voll, und das führt zur Überernährung.
Gleichzeitig aber ist die kulturelle Evolution unser Erfolgsgeheimnis, allein schon weil die Sprache eine enorme soziale Wechselwirkung ermöglicht. Sehr lange war dieses System wegen der räumlichen Verteilung relativ stabil: Wenn irgendwo etwas kippte, war es an einem anderen Ort in Ordnung. Nur die Massensterben waren ein globaler Schock für das Leben; eine Krise, wie es eine CO2-Inversion für das intelligente Leben wäre. Nun sind wir dieser globale Schock. Wir sind für die Instabilität völlig zuständig, weil wir die Erde unterworfen haben. Wir haben alles in der Hand und nichts - können alles zerstören und haben keine Kontrolle darüber.
Martin Nowak geboren 1965 in Klosterneuburg, ist ein österreichisch-amerikanischer Biomathematiker. Er studierte Biochemie und promovierte "sub auspiciis" in Mathematik an der Uni Wien. Danach forschte er an den Universitäten Oxford und Princeton. Seit 2003 ist er Professor an der Universität Harvard, die ein eigenes Institut für ihn schuf, das "Program for Evolutionary Dynamics". Die "Wiener Zeitung" besuchte ihn in Cambridge, Massachusetts.
Kulturelle Entwicklungen gingen in der europäischen Frühgeschichte mit großen Veränderungen im Erbgut einher. Dies zeigt eine Untersuchung des Genoms von 13 Menschen aus dem 6. bis 1. Jahrtausend vor Christus in Mitteleuropa. Die Ergebnisse stützten die Hypothese, dass kulturelle Neuerungen durch Vermischung einzelner Populationen weitergegeben wurden, erklären irische Forscher des University College in Dublin. Alle Menschen, deren DNA das Team sequenziert hat, hatten in der Großen Ungarischen Tiefebene gelebt, berichten sie in "Nature Communications". Diese Region sei eines der zentralen Gebiete gewesen, an denen östliche und westliche Kulturen aufeinandertrafen, und ein Ort kulturellen und technologischen Übergangs. Die Forscher verglichen die Erbgut-Sequenzen mit Daten anderer früher Europäer und denen heute lebender Menschen. Sie stellten fest, dass das Erbgut während der Jungsteinzeit und bis in die Kupferzeit stabil geblieben war. In der Bronzezeit gab es massive DNA-Veränderungen. In dieser Zeit nahm der Handel mit Rohstoffen und Gütern zu, Menschen aus anderen Populationen wanderten ein. Im ersten Jahrhundert vor Christus, während der Eisenzeit, kam es erneut zu einer starken Veränderung des Genoms.