Bei den Präsidentenwahlen in Taiwan am Samstag wird ein knappes Rennen zwischen Amtsinhaber Chen Shui-bian und seinem Herausforderer Lien Chan erwartet. Als Trumpf gegen die geschlossen hinter Lien stehende Opposition hat Chen ein umstrittenes Referendum angesetzt, das seinen auf die taiwanesische Identität setzenden Wahlkampf unterstreichen soll.
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Nach einer rasanten Aufholjagd von Chen (Demokratisch-Progressive Partei/DPP) liegen unmittelbar vor der Wahl beide Kandidaten gleichauf. Monatelang war Lien von der oppositionellen, eher China-freundlichen, Kuomintang (KMT) der klare Favorit. Sie hatte sich bei den letzten Wahlen im Jahr 2000 nach 50-jähriger Regentschaft selbst ausgehebelt, als der populäre James Soong nach internen Streitigkeiten als Unabhängiger für das Präsidentenamt gegen die schon damals angetretenen Bewerber Lien und Chen kandidierte. So konnte Letzterer gegenüber dem gespaltenen damaligen Regierungslager reüssieren.
Diesmal sieht sich Chen jedoch einer geschlossenen Opposition gegenüber. Soong stellte sich als Vizepräsidenten-Kandidat vorbehaltlos hinter Lien, was den Staatschef zu einem Kunstgriff veranlasste. In Umfragen bereits abgeschrieben, lancierte er Mitte Jänner für den Tag der Wahl das erste Referendum des Inselstaates, in dem die Taiwanesen gefragt werden, was sie grundsätzlich von Abwehrmaßnahmen gegen die Bedrohung durch die Raketen der Festlandchinesen halten.
Im Wahlkampf setzte Chen konsequent auf einen Pro-Unabhängigkeitskurs und pochte auf eine eigenständige taiwanesische Identität. Unabhängig davon, ob die notwendigen 50 Prozent der fast 16 Millionen Wahlberechtigten das Referendum unterzeichnen, drängte es jedenfalls die KMT in die Defensive. Zusätzlich hat Lien nach seinem schlechten Ergebnis 2000 mit einem gewissen Verliererimage zu kämpfen.
Zuletzt setzte ein erbitterter Wahlkampfendspurt um den immer noch hohen Anteil der Unentschlossenen ein. Während Chen die KMT als unpatriotisch hinzustellen versucht, setzt diese voll auf ihre Wirtschaftskompetenz, wo die Regierung Chen nur eine magere Bilanz vorweisen kann. Lien und Soong lehnen das anstehende Referendum als illegal und zu provokant ab. Für eine Entspannung mit dem Festland werben sie für einen konzilianteren Kurs gegenüber China - seit dem Vorjahr der größte Handelspartner Taiwans - als ihn die DPP zuletzt fuhr.
Chinas geschickter Kurs
Tatsächlich hatte vor allem das Referendum scharfe Reaktionen aus Peking hervorgerufen, das Taiwan als abtrünnige Provinz ansieht. Von der Verurteilung als "hochgefährlichen" ersten Schritt zur Unabhängigkeit bis zur Kriegs-Drohung reichte das Repertoire. Verbal zuletzt auffällig zurückhaltend, beschränkt sich China auf kurz vor taiwanesischen Wahlen traditionelle militärische Drohgebärden. Diesmal wird das bisher größte Seemanöver mit ausländischer Beteiligung gemeinsam mit Frankreich abgehalten. Und dass Taiwans Schutzmacht USA Chen vor Provokationen gegenüber China im Vorfeld der Wahlen warnt, könnte längerfristig die Strategie der KMT als politisch schlaueren Weg bestätigen.