Das Rennen um den nächsten EU-Kommissionspräsidenten ist spannend wie selten, aber es fehlt an Öffentlichkeit.
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Manfred Weber und Frans Timmermans brennen für die europäische Idee und laufen für Europa. Aber sie laufen vor allem auch darum, bekannter zu werden. Die ersten Fernsehdebatten der vermeintlich chancenreichsten Anwärter auf den EU-Kommissionschef waren sehenswert, weil fair und gleichzeitig mit feiner Klinge gestritten wurde. Beide machten klar, wofür sie stehen, wo ihre Gegensätze sind, etwa bei der Frage einer CO2-Steuer, und wo die Gemeinsamkeiten liegen, jedenfalls bei der Stärkung des EU-Parlaments. Eine seltene Gelegenheit, die Konzepte der europäischen Spitzenkandidaten kennenzulernen. Denn die europaweiten TV-Duelle sind Mangelware. Während in Österreich die Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien beinahe jeden zweiten Tag in unterschiedlichsten TV-Formaten im Hauptabendprogramm zu sehen sind, treffen Weber und Timmermans insgesamt ganze drei Mal zu zweit beziehungsweise in Kombination mit den Spitzenkandidaten der anderen europäischen Parteifamilien aufeinander. Für Österreich nimmt sich ORF III der EU-weiten Sache an. Letztlich zu wenig, um breites Interesse zu wecken.
Dabei ist die Ausgangslage so spannend wie schon lange nicht mehr. Laut Prognosen dürften die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten die Mehrheit im EU-Parlament verlieren und müssen sich auf weitere Koalitionspartner einstellen. Liberale und Grüne scharren in den Startlöchern und feilen an ihren Bedingungen. Denn: Nicht der Kandidat der stimmenstärksten Partei, sondern jener, der die meisten EU-Abgeordneten hinter sich versammeln kann, macht letztlich das Rennen. Timmermans und Weber liegen hier knapp beieinander. Gemäß der Umfrageplattform Europeelect kam die EVP noch vorigen Monat auf 180 Mandate, die Sozialdemokraten lagen bei 161. Seither haben Ungarns Premier Viktor Orbán Weber seine Unterstützung entzogen und die spanischen Konservativen eine herbe Wahlniederlage erlitten. Es bleibt also bis zuletzt spannend.
Nach dem 26. Mai beginnt aber auch ein Rennen gegen die Zeit. Schon zwei Tage nach den EU-Wahlen treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs, mehrheitlich liberal und konservativ, um über das Wahlergebnis und anstehende Personalentscheidungen zu beraten. Nicht nur in der EU-Kommission, auch im Europäischen Rat bis hin zum EU-Parlament und der Europäischen Zentralbank stehen neue Topbesetzungen an. Das neu gewählte EU-Parlament wird wiederum versuchen, nach seiner Konstituierung Anfang Juli so rasch wie möglich Nägel mit Köpfen zu machen, um die Regierungschefs, von denen einige dem System der Spitzenkandidaten gar nicht zugetan sind, vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das Vorschlagsrecht für die Nominierung des Kommissionspräsidenten obliegt zwar dem Europäischen Rat, "mit qualifizierter Mehrheit und unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses". Die Letztentscheidung treffen allerdings die EU-Parlamentarier. Kann sich das EU-Parlament jedoch nicht einigen, werden die Karten womöglich ganz neu gemischt. Da soll noch jemand sagen, die EU-Wahlen und die Zusammensetzung des EU-Parlaments spielten keine Rolle!
Paul Schmidt ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik.