Gespräch mit dem Demographen Wolfgang Lutz anlässlich von "40 Jahre Weltbevölkerungsprogramm" am IIASA.
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Wien. "Die Migration ist heute nicht stärker denn je. Und Menschen über 60 Jahre gehören noch lange nicht zum alten Eisen." Mit diesen zwei Aussagen will der Demograph Wolfgang Lutz nur zwei weitverbreitete Fehlmeinungen zurückweisen, die nicht mit aktuellen Erkenntnissen seiner Fachrichtung übereinstimmen.
Wenn heute, Mittwoch, drei von ihm geleitete Forschungsinstitute Jubiläen feiern, ist sein größter Wunsch, dass die Politik demographische Studien mehr beherzigt. "Ich wünsche mir eine wissenschaftsbasierte Diskussion, nicht nur ideologische Reflexe." Dann müsste auf globaler Ebene die Bedeutung des "Humankapitals", einer mit möglichst viel Bildung ausgestatteten Bevölkerung, erkannt werden. In Europa gehe es vor allem darum, die Alterung nicht nur als Last und Gefahr zu sehen, sondern die Chance zu nutzen, dass heutige Senioren punkto Gesundheit und kognitiver Fähigkeiten viel besser dastehen als frühere Generationen. Es sei zu einfach, angesichts des wachsenden Anteils der Bevölkerung über 65 Jahre das "große Gespenst der Pensionskrise" im Mund zu führen. In Ländern wie Norwegen oder der Schweiz arbeiteten viele Menschen zehn Jahre länger als bei uns, und für die gebe es auch einen Arbeitsmarkt.
Seit der NS-Zeit diskreditiert
Gefeiert werden am Campus der Wiener Wirtschaftsuniversität (WU) mehrere Anlässe. Das Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wird 40 Jahre alt und eröffnet offiziell seine neuen Räumlichkeiten am WU-Campus. Auch das Weltbevölkerungsprogramm am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg feiert sein 40-jähriges Bestehen. Und zudem ist es fünf Jahre her, seit Wolfgang Lutz den Wittgenstein-Preis bekommen und mit dem Preisgeld das "Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital" initiiert hat, als gemeinsames Dach für das ÖAW-Institut, das IIASA-Programm und seine Demographie-Gruppe an der WU, wo er seit 2010 eine halbe Professur innehat. Eine ganze war wegen seiner anderen Verpflichtungen, die er nicht aufgeben wollte, nicht möglich.
Damit hat aber die Demographie erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in Österreich wieder "einen Fuß in der universitären Tür", freut sich Lutz. Denn das Fach war im deutschsprachigen Raum seit der Zeit des Nationalsozialismus diskreditiert. Damals hatte man aus der Gesellschaft für Demographie eine "für Rassenhygiene" gemacht. Erst über außeruniversitäre Forschung - an der ÖAW und am IIASA - wurde Demographie wieder salonfähig. Wolfgang Lutz machte sein Doktorat in den USA und wurde dann an diesen Einrichtungen tätig, die er nun schon seit Jahren leitet.
Mit dem Wittgenstein Centre zielt Lutz darauf, "eine intellektuelle Einheit zu schaffen, wo es nebensächlich ist, von wem das Gehalt überwiesen wird". Die meisten Projekte würden ohnehin gemeinsam durchgeführt. Für die Karrierechancen der Mitarbeiter sei die Struktur hilfreich: "Von der Uni muss man nach sechs Jahren abgehen, egal wie gut man ist, wir können die Leute zwischen den drei Institutionen rotieren lassen." Die Resultate können sich sehen lassen. Zwölf Publikationen in den Top-Journalen "Science" oder "Nature", sprechen Bände. Es gelang auch, viele EU-Projekte an Land zu ziehen und bei den begehrten Preisen des Europäischen Forschungsrates, den ERC-Grants, erfolgreich zu sein: "Unsere Leute haben schon sechs ERC-Grants, so eine hohe Dichte bei einer so kleinen Gruppe gibt es sonst kaum." Bei der Jubiläumsfeier werden vor allem die jungen Forscher Highlights ihrer Arbeit präsentieren, zur Bevölkerungsdynamik und Migration, zur menschlichen Reproduktion, zum Altern und seinen Konsequenzen und zum Thema Bevölkerung und nachhaltige Entwicklung.
"From an Austrian to an European to a Global Player" lautet ein Slogan des Instituts - also unterwegs von österreichischer zu europäischer und weltweiter Bedeutung. In der komparativen Demographie, meint Lutz, sei man zum führenden europäischen Institut geworden, bei Bevölkerungsprojektionen leiste weltweit nur die UNO Vergleichbares: "Die machen es aber nur nach Alter und Geschlecht, wir auch nach Bildung, was das Ganze relevanter macht. Entscheidend ist ja nicht nur die Zahl der Köpfe, sondern was in den Köpfen drinnen ist."
Was heute in manchen Köpfen vorgeht, kann Lutz nicht bestätigen: "Die Intensität der Migration hat sich laut einer Studie, die bis 2010 reicht, zumindest bis damals nicht verstärkt, obwohl viele den Eindruck haben, es gebe viel mehr Migranten als früher. Wir sehen nur die, die übers Mittelmeer kommen, aber das sind sicher nicht die größten Migrationsströme. Die Hauptmigranten sind zum Beispiel die Asiaten, die zur Arbeit in die Golfstaaten kommen, oder innerafrikanische Ströme." Lutz unterscheidet zwischen Arbeitsmigration und politisch bedingter Flüchtlingswanderung, wobei die Grenze nicht immer scharf zu ziehen sei.
Wie einst die Burgenländer
Wenn die Mobilität wachse, zugleich aber nicht genug Arbeitsplätze da sind, werde eben massenweise ausgewandert. Das taten um 1900 auch viele Burgenländer und Tiroler. "Zum Unterschied von heute stand ihnen damals die neue Welt offen." Die Afrikaner, seien heute demographisch in einer ähnlichen Lage, hätten es aber viel schwerer, eine neue Heimat zu finden.
Lutz arbeitet gerade mit seinem Berliner Kollegen Reiner Klingholz an einem populärwissenschaftlichen Buch über die Bedeutung von Bildung für die Zukunft der Menschheit. Die Hauptthese sei, "dass die Abstraktionsfähigkeit, die mit Lesefähigkeit einhergeht, die treibende Kraft der kulturellen, vor allem aber der wirtschaftlichen Entwicklung ist". Globale Basisbildung und Basisgesundheit seien Grundvoraussetzungen für nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert. Bestimmte Länder müssten Hilfe von außen bekommen und befähigt werden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.