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Kopflos regieren

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Die Tories zeigen es: Die Erosion strategischer Kompetenz ist nicht auf Kleinstaaten beschränkt.


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Seit 2010 regieren die Konservativen, Tories genannt, in Großbritannien - seit Ende 2019 und dank dem Versprechen, den Brexit endlich umzusetzen, mit der größten Parlamentsmehrheit seit Jahrzehnten. Trotzdem versagt die Partei in der größten Krise seit 1945 in der zentralen Aufgabe jeder Mehrheitsfraktion: das Land mit einer geschlossenen, zum Handeln entschlossenen Regierung auszustatten. Stattdessen leisten sich die Tories, machtversessen und verantwortungsvergessen, eine Schlammschlacht um die Nachfolge des an seinen eigenen Widersprüchen gescheiterten Boris Johnson.

Und noch schlimmer: Die Themen, über die die beiden verbliebenen Kandidaten um das Amt des Parteichefs und nächsten Premiers, Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak, streiten, haben allenfalls am Rande mit den tatsächlichen Problemen der Nation und ihrer Bürger zu tun. Das ist zwar auch, allerdings nur zum Teil den Umständen einer Urwahl durch die 160.000 konservativer Parteimitglieder geschuldet, der sich die beiden Kandidaten nun stellen müssen. Im Kern ist es die Entscheidung der Regierungspartei, in dieser Krisen- und Umbruchzeit für Land und Menschen im wahrsten Sinne kopf- und orientierungslos zu taumeln. Niemand hindert sie daran, ihren Führungs- und Richtungsstreit auf andere Weise zu entscheiden, etwa durch das Votum der Parlamentsfraktion, zumal diese via ihre Direktmandate über eine deutlich größere demokratische Legitimation verfügt als die 160.000 Mitglieder, die 0,3 Prozent der Wählerschaft Großbritanniens ausmachen. "Hätte, hätte, Fahrradkette", hat der ehemalige SPD-Vorsitzende Peer Steinbrück diese Debatten über versäumte Optionen genannt.

Die Erosion strategischer Kompetenz ist nicht auf kleinere und mittelgroße Staaten, wie Österreich einer ist, beschränkt. Wenn Parteien kein höheres Ziel mehr kennen, als bloß die Macht zu erobern, sickert ein solches Bewusstsein unweigerlich auch in die Institutionen eines Landes ein. Mächtigere Staaten, so glaubte (und hoffte) man, wären gegen eine solche Erosion von Kompetenz besser gewappnet.

Die Vorstellung, dass mit der Macht auch das Bewusstsein für die damit einhergehende Verantwortung steige, hat sich indes als Illusion herausgestellt. Es sind nicht nur, aber eben auch die Mächtigen selbst, die unentwegt Raubbau an den Voraussetzungen für einen freiheitlichen Staat betreiben, die dieser selbst nicht garantieren kann. In Großbritannien lässt sich das seit Jahr und Tag am Beispiel der heillos zerstrittenen Tories beobachten.