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Körper, wie sie keiner kennt

Von Christian Pinter

Wissen

Wissenschafter, auch aus Österreich, denken darüber nach, ob Lebewesen fern von Kohlenstoff und Wasser existieren könnten. Sie müssten sich freilich von den uns bekannten Lebensformen erheblich unterscheiden.


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Die Grundlage irdischen Lebens ist der Kohlenstoff. Nach dem Wasserstoff geht er die meisten chemischen Verbindungen ein und sorgt für komplexe Moleküle. Er kann Millionen verschiedener Kettenmoleküle bilden, eignet sich für Einfach-, Doppel- und Dreifachverbindungen. Kein Wunder, dass irdisches Leben auf Kohlenstoff setzt, obwohl es auf Erden doch z.B. viel mehr Silicium gäbe.

Exotische Lebensformen könnten fiktive Planeten mit Methanseen an ihrer Oberfläche besiedeln . . .
© Grafik: Pinter

Ohne Kohlenstoff scheint Leben unmöglich zu sein - hier oder sonst wo im Universum. Doch seit spätestens 1973 wird den Anhängern dieser Position gelegentlich Engstirnigkeit, ja "Kohlenstoff-Chauvinismus" vorgeworfen. Kritisch äußert sich auch Johannes Leitner vom Institut für Astronomie in Wien. Er gehört einer im Mai 2009 gegründeten, universitären Forschungsplattform rund um die Physikerin Regina Hitzenberger und die Astronomin Maria Firneis an. Unter dem Kurznamen "ExoLife" überlegt man unter anderem, ob Leben auch ohne Kohlenstoff möglich wäre. Zwischenergebnisse wurden 2012 bei einer internationalen Tagung in Wien präsentiert. Weltweit befassen sich aber auch andere Forscher und Forschergruppen mit diesem Thema.

Schattenbiosphären

Lebewesen sind aus Zellen oder Zellverschmelzungen aufgebaut. Bestünde das Baumaterial der Zellen nicht aus Kohlenstoff, sondern aus Silicium oder Stickstoff, sähen die resultierenden Geschöpfe anders aus. Unsere Umwelt wäre für sie teils lebensfeindlich; doch dafür erschlössen sich ihnen Lebensräume, in denen wir Kohlenstoffwesen denkbar schlechte Karten hätten.

. . . oder auch im Orbit einer Zwergsonne leben.
© Grafik: Pinter

Mit Silicium lassen sich Mehrfachverbindungen schwieriger herstellen als mit Kohlenstoff. Silicium-Verbindungen sind nicht so flexibel. Zwar ist Siliciumdioxid äußerst stabil und sogar gesteinsbildend - für komplexe chemische Vorgänge erscheint es aber recht starr. Dieses Element wäre laut Firneis und Leitner dennoch interessant - in einer Umwelt, in der es weniger Wasser und keinen Sauerstoff gibt; und auf Welten mit höherem Druck an der Oberfläche.

Die Silane, eine Gruppe chemischer Verbindungen mit einem Silicium-Grundgerüst und Wasserstoff, eigneten sich vielleicht für Lebewesen auf den eisigen äußeren Monden Titan oder Triton. Sie hätten flüssiges Wasser oder freien Sauerstoff zum Feind, würden darin verbrennen. Als weitere Alternativen zum Kohlenstoff ließen sich Bor, Schwefel oder Phosphor denken.

Für solch exotische, freilich noch hypothetische Lebensformen schlug die Wiener Gruppe den Begriff "Exotic Life" vor. Dabei schließt Johannes Leitner nicht aus, dass exotische Wesen auch auf Erden wohnen könnten, in bisher unentdeckten "Schattenbiosphären": Vielleicht findet man sie noch in isolierten Nischen, in trockenen Wüsten oder sehr tief im Erdinneren.

Kohlenstoffkreaturen brauchen Wasser, um Stoffe zu verdünnen oder zu lösen. Wasser spielt als Lösungsmittel die dominierende Rolle, weshalb Erdbewohner in hohem Maß daraus bestehen - der Mensch zu gut zwei Dritteln. Diese wunderbare Flüssigkeit hilft, Nährstoffe in die Zellen zu schaffen und Abfallstoffe fort zu transportieren. Mit seiner hohen Hitzekapazität regelt Wasser die Temperatur. Es bleibt über einen großen Temperaturbereich hinweg flüssig. Komplexes Kohlenstoffleben funktioniert in Lösungsmitteln wie Ammoniak oder Schwefelsäure nicht.

Biologische Strukturen aus Stickstoff oder Silicium würden hingegen auch andere Lösungsmittel nutzen als wir. Als Alternativen mögen sich für Exoten etwa flüssiger Stickstoff, Ethan, Methan oder Formamid auftun. Schwefelsäure wäre des höheren Siedepunkts wegen auf Gluthöllen wie der Venus interessant. Wie einzelne Forscher spekulieren, leben in den Schwefelsäuretropfen der Venuswolken vielleicht sogar Mehrzeller mit Gefäßen aus Glas oder flexiblen Polymeren wie Teflon, Polyethylen und Silikon.

Leben auf Eismonden

Beimengungen von Ammoniak senken den Gefrierpunkt, was wiederum auf den Eismonden der großen, fernen Riesenplaneten günstig wäre. Ammoniak bleibt zwischen minus 77 und minus 33 Grad C flüssig. In konzentriertem Ammoniak würden, so die deutsche Geologin Dagmar Röhrlich, chemische Reaktionen allerdings träge ablaufen. Dafür könnten entsprechend angepasste Mikroben selbst die Gashüllen von Jupiter oder Saturn besiedeln. Sie hätten allerdings andere Zellwände. Sauerstoff brächte sie um. Weitere Lösungsmittel wären für Röhrlich die Fluss-, die Blau- oder die Salzsäure - freilich bloß für sehr exotische Geschöpfe!

Dass andere Lösungsmittel im Kosmos existieren, weiß man längst: Auf Titan gibt es flüssiges Methan bzw. Ethan. Die beiden formen dort Wolken, regnen herab, bilden Flüsse und Seen. Bei Bodentemperaturen von minus 180 Grad C ginge das mit Wasser längst nicht mehr. Ein Gemisch aus Methan und Ethan besäße eine geringere Oberflächenspannung als Wasser, wie der aus Hessen stammende Astrobiologe Dirk Schulze-Makuch betont. Deshalb mögen exotische Geschöpfe darin wesentlich größere Zellen ausbilden. Auf Titan hausten also gewissermaßen "Titanen". Der Kälte wegen würden sie sich wohl nur schleppend fortbewegen und langsam altern. Ihre Chemie wäre für Menschen giftig, enthielte womöglich übelriechende Phosphane und Schwefelwasserstoff: Sie würden stinken wie faule Eier.

Wir selbst hätten mit ihnen niemals direkten Kontakt, da sie von unserer Luft getötet würden. Diese Kreaturen mit Zellen auf Silicium-Basis besäßen vielleicht Blut aus Methan. Sie würden Wasserstoff und Ethin konsumieren - zwei Substanzen, die am Boden Titans auffällig fehlen.

Um jeden Stern lässt sich ein ringförmiger Bereich zeichnen, in dem flüssiges Wasser existieren kann - zumindest an der Oberfläche von Planeten mit einigermaßen dichten Atmosphären. In unserem Sonnensystem kreist nur die Erde völlig unbestritten in dieser "habitablen Zone" (HZ). Da andere Lösungsmittel unterschiedliche Gefrier- und Siedepunkte kennen, würde sich der bewohnbare Bereich für exotische Lebensformen damit verbreitern; sowohl in Richtung Stern, als auch von diesem weg. So bliebe Formamid bis 222 Grad C flüssig, während Ammoniak erst in großer Sterndistanz erstarrt.

Für diese großzügiger gestaltete Region hat die österreichische Forschungsplattform den Begriff "Life Supporting Zone" ("lebensermöglichende Zone", kurz: LSZ) geprägt. Sie wäre vor allem für Welten rund um die unzähligen roten Zwergsterne attraktiv, zumal diese kühlen Gnome von heftigen Strahlungsausbrüchen geplagt werden. Die klassische HZ liegt dort gefährlich nah am Stern. Mit Methan als Lösungsmittel rutschte die Außenregion der LHZ hingegen in eine größere und damit sicherere Distanz.

Zum Begriff "Leben" gibt es über 300 verschiedene Definitionen. Fast immer steht dabei das irdische Vorbild Modell. Dass die Lebensdefinition nicht einfach ist, zeigen schon die Viren. Sie besitzen keinen eigenen Stoffwechsel und benötigen Zellen fremder Lebewesen zur Reproduktion. Andererseits sind sie fähig, sich an verschiedenste Wirte anzupassen. Trotzdem schließen die meisten Lebensdefinitionen Viren aus.

Orientieren sich solche Definitionen an den Eigenschaften des irdischen Lebens, könnten wir exotische Geschöpfe leicht übersehen. Auf den Himmelskörpern unseres eigenen Sonnensystems fahndet man mit teuren Raumsonden nach Leben. Für Exoten müsste man die Messgeräte aber anders konzipieren. Planeten im Orbit um andere Sterne lassen sich bestenfalls mithilfe der Spektralanalyse erforschen. Irdische Wesen haben die Atmosphäre verändert. Den Geschöpfen anderer Planeten könnte dort Ähnliches gelungen sein. Deshalb sucht man die Spektren der fernen Exoplaneten nach jenen "Biosignaturen" ab, die man auch aus der eigenen Lufthülle kennt. Für exotische Lebensformen wären freilich ganz andere Biosignaturen zu ermitteln. Die Suche nach einem möglichst erdähnlichen Planeten wäre dann die falsche Strategie.

Anregende Hypothese

Noch gilt die Existenz des Lebens fern von Kohlenstoff und Wasser als bloße Hypothese: Die ganze Sache endet womöglich in einer Sackgasse. Ein Vorreiter dieser Idee war jedenfalls der Braunschweiger Max Wilhelm Meyer: Der Vater der Urania-Volksbildungshäuser wirkte zeitweise auch in Wien und verfasste zahlreiche, damals recht populäre As-tronomiebücher. Vor rund hundert Jahren schrieb er:

"Man kann es sich ferner wohl vorstellen, dass die Lebensentfaltung durchaus nicht immer an die Existenz von Wasser in seinen drei Aggregatzuständen und an Luft in der Zusammensetzung unserer Atmosphäre gebunden zu sein braucht, wie es auf der gegenwärtigen Temperaturstufe der Erde der Fall ist. Bei wesentlich höheren oder tieferen Durchschnittstemperaturen können ganz andere chemische Elemente in eine ganz ähnliche Wechselwirkung zueinander treten, wie sie bei uns die Lebensentfaltung bedingen. Eine ganz neue Welt von Lebensformen wäre die Folge davon."

Christian Pinter geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Dies ist sein 275. Artikel in der "Wiener Zeitung". Internet: www.himmelszelt.at