Niemand weiß, wie viele Tier- und Pflanzenarten jeden Tag von der Erde verschwinden. Es wird vermutet, dass es inzwischen schon etliche Dutzend sein müssen, aber verlässliche statistische Daten liegen hierzu nicht vor. Niemand weiß, wie viele Tier- und Pflanzenarten gegenwärtig auf der Erde existieren. Nach vorsichtigen Schätzungen ist ihre tatsächliche Zahl irgendwo zwischen 13 und 30 Millionen anzusiedeln, aber die Biologie hat bisher erst 1,5 Millionen taxonomisch erfasst.
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Die zoologische Systematik wird seit langem für eine dröge Angelegenheit gehalten, deren Nutzen eher gering ist und die allenfalls klassifikationswütige Sonderlinge in Begeisterung versetzen kann. Und heute, im Zeitalter der Molekulargenetik und Biotechnologie, wird ihre Daseinsberechtigung mehr und mehr in Frage gestellt. Wie verfehlt diese Urteile sind und wie leicht sie widerlegt werden können, macht der Zoologe Matthias Glaubrecht auf jeder Seite seines neuen Buchs deutlich. Die zoologische Systematik, macht Glaubrecht geltend, ist die Basis der gesamten Biologie. Ohne ihre exakten Erkenntnisse könnten weder Krankheitserreger noch Schädlinge effektiv bekämpft werden. Ohne sie wäre es nicht möglich, neue, für die Medizin oder Landwirtschaft nützliche Tier- und Pflanzenarten aufzuspüren. Und schließlich könnten ohne sie nicht einmal die Arten und Unterarten identifiziert werden, die heute vom Aussterben bedroht sind.
Die Themen, die Glaubrecht darüber hinaus behandelt, umfassen fast das gesamte Spektrum der Biologie. Er schildert das bizarre Sexualleben der Tiere und erörtert die Auswirkungen der Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Er befasst sich mit der Evolution der Darwin-Finken - bei der die wiederholte genetische Vermischung eng verwandter Arten eine entscheidende Rolle gespielt haben muss. Er berichtet vom mysteriösen Schicksal des Homo erectus - der offenbar erst vor 40 000 Jahren ausgestorben ist. Und er schreibt über die "neolithische Revolution" - die offenbar nie stattgefunden hat.
Das Buch ist eine Sammlung von Forschungsberichten und Essays, die Glaubrecht ursprünglich für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben hat. Zusammengenommen ergeben sie einen exzellenten Überblick darüber, welche Erkenntnisfortschritte die einzelnen biologischen Disziplinen in den letzten Jahren gemacht haben. Wissenschaftsjournalismus at its best. (Matthias Glaubrecht: "Die ganze Welt ist eine Insel. Beobachtungen eines Evolutionsbiologen." S. Hirzel Verlag, Stuttgart-Leipzig 2002)