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Korrupt ist nur der andere

Von Konstanze Walther

Politik

Der Autor James Angelos erklärt, mit welchen Emotionen die politische Debatte in Griechenland geführt wird.


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"Wiener Zeitung":In Ihrem Buch "The Full Catastrophe" widmen Sie ein Kapitel der berüchtigten "Insel der Blinden": Zakynthos, einer Insel, auf der fast zwei Prozent der Bevölkerung Sozialleistungen für Blinde kassiert haben. Damit wäre die Insel aber mit einem seltenen Schicksal geschlagen - der Anteil der Blinden wäre schließlich neunmal so hoch wie im Durchschnitt in der westlichen Welt. Sie haben damals die Insel besucht, und alle Ihre Gesprächspartner zeigten mit dem Finger auf den jeweils anderen, nach dem Motto, selbst sei man nicht korrupt, aber der andere. Und es sei gut, endlich mit der Korruption aufzuräumen, meint auch Ihr Taxifahrer, bevor er Ihnen eine falsche Rechnung ausstellt. Das war 2012. Glauben Sie, dass sich diese Mentalität in den vergangenen Jahren geändert hat oder ist das etwas, wofür es einen Generationenwechsel braucht?

James Angelos: Heute würde zumindest jeder Grieche zugeben, dass es Dekaden eines korrupten politischen Systems gegeben hat und Veränderung notwendig ist. Die Frage ist, ob eine - diese - Regierung die Veränderungen implementieren kann. Die vorherige Regierung hat es bereits versucht, aber der Eindruck unter den Leuten war, dass bei dem Versuch, die Steuervermeidung einzudämmen, zuallererst die kleinen Leute zur Kasse gebeten worden sind. Und viele Griechen sagen: "He, wieso unternehmt ihr nicht zuerst etwas gegen die großen Fische, bevor ihr gegen uns vorgeht?" Das ist einer der Gründe, weshalb Syriza im Jänner gewählt worden ist; weil sie versprochen hat, dass sie genau das machen wird: gegen die großen Fische vorzugehen. Ob sie das machen oder nicht, und ob sie die Möglichkeit dazu haben, ist eine andere Frage.

Hypothetisch gesprochen, was wäre das beste Szenario für Griechenland, wenn wir IWF und Athener Regierung außen vor lassen?

Qualitative Reformen im staatlichen Verwaltungsapparat sind jedenfalls ein Schlüssel. Und Reformen, um die Steuern besser und fairer einzuheben. Griechenland hat ja schon Fortschritte gemacht. Die Gläubiger, die Reformen urgieren, haben Griechenlands Bedürfnis nach Hilfsgeldern als Druckmittel verwendet. Das hat zwar einerseits zu positiven Änderungen geführt. Andererseits wurden Fehler gemacht, die den wirtschaftlichen Abschwung vertieft haben. Wenn es nun ein paar Eingeständnisse von den Gläubigern gibt, dass Fehler gemacht wurden - wie es ja schon vereinzelt vorgekommen ist - verbessert es die Atmosphäre. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass man die Griechen "vom Haken lässt", also "davonkommen lässt", wie immer wieder befürchtet wird, nach dem Motto: Wenn wir es den Griechen durchgehen lassen, dann ermutigen wir damit diese Art von Benehmen in der Zukunft. Ich weiß nicht, ob dieses Denken das Beste ist, um eine Lösung für das Problem zu finden.

Der Titel Ihres Buches ist "The Full Catastrophe". Was war denn Ihrer Meinung nach die absolute Katastrophe? Der Eintritt der Griechen in die Währungsunion? Die Regierungen davor und danach?

Der Titel ist ein Satz aus dem 1964 Film "Alexis Sorbas" (Zorba the Greek, Anm.), der für mich die einzigartige, bizarre Mixtur der Dinge auf den Punkt bringt, die alle zusammengenommen zu dem Ist-Zustand geführt haben. Angefangen mit dem Eintritt Griechenlands in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1981. Griechenland hat es dorthin geschafft, obwohl es damals dagegen Bedenken gab. Für Griechenland sprach damals vor allem - unverhohlen - der Gedanke, dass Griechenland der Ursprung der westlichen Zivilisation war, die Mutter aller Demokratien. Und diese, die Vergangenheit beschwörende Rhetorik hört man heute noch in Europa. Griechische Politiker äußern das immer wieder, genauso wie andere europäische Politiker: Griechenland habe eine symbolische Stellung für Europas kulturelle Identität. Dann kam 2010, mit Beginn der offiziellen Staatsschuldenkrise, das böse Erwachen: In Griechenland passierten viele Dinge, die ganz und gar nicht idyllisch sind. Sogar die Reformversuche liefen absurd ab.

Wie zum Beispiel?

Im ersten oder zweiten Jahr nach dem ersten Rettungspaket 2010 versuchte die griechische Regierung, den Betrug bei Sozialleistungen für Behinderte einzudämmen. Dafür mussten sie eine eigene Erhebung machen! Die griechische Zentralregierung konnte die einfache Frage nicht beantworten, wie viele Menschen in Griechenland Sozialleistungen wegen Behinderungen beziehen! "Wenn Sie weiterhin Ihre Behinderten-Sozialleistungen bekommen wollen, dann müssen Sie sich in einem Amt melden und registrieren lassen, sonst werden die Leistungen gestrichen", hieß es. Und so mussten alle Menschen mit Behinderung sich registrieren lassen, nur damit der Betrug mit Sozialleistungen eingedämmt werden konnte, weil die Regierung es aus Unfähigkeit anders nicht schaffen würde. Können Sie sich vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn Sie eine Behinderung haben, sich deswegen registrieren zu müssen? Und das ist nur ein Beispiel für die Intransparenz des Systems: Die Regierung kann nicht sagen, wer was bekommt. Da wundert es nicht, dass lokale Politiker schalten und walten, etwa auf der Insel der Blinden Leistungen vergeben, damit sie gewählt werden. Das funktionierte, so lange der Staat so undurchschaubar war.

Dann kamen die Gläubiger und wollten reformieren, machten hier ein Häkchen, da ein Häkchen, "macht das, macht das", und dann, hatten sie gesagt, werde es 2012 schon viel besser aussehen. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, 2012 war die ursprüngliche Prognose, wo alles besser hätte sein sollen. Natürlich kann man in einem dysfunktionalen Staat nicht innerhalb von zwei Jahren alles reformieren, vor allem, wenn es der Staat selbst nicht schafft, die Reformen umzusetzen. Deswegen sind wir heute da, wo wir sind. Die Erwartungen von 2010 waren komplett unrealistisch. Das erste Rettungspaket hat die Eurozone zwar intakt gelassen, aber Griechenlands Zukunft verdüstert.

Glauben Sie, dass die jetzige Regierung, inzwischen die Probleme alleine anpacken kann?

Die jetzige Regierung hat noch nicht gezeigt, dass sie die Fähigkeit besitzt, die Änderungen, die man braucht, auch zu machen. Sie ist allerdings auch noch nicht sehr lange an der Macht. Man muss ihnen auch zugestehen, dass sie nicht für die Fehler der Vergangenheit verantwortlich ist. Allerdings muss man sich fragen, ob diese waghalsige Politik, die sie jetzt verfolgen, wirklich im besten Interesse der Griechen ist, denn jeder Tag, an dem die Banken geschlossen sind, ist ein weiterer Nagel im Sarg der griechischen Wirtschaft. (Am Wochenende wird ein EU-Sondergipfel zu Griechenland stattfinden, um über den letzten Vorschlag aus Griechenland zu beraten, der in der Nacht auf Freitag in Brüssel eingelangt ist, Anm.)

Wie stark darf Brüssel noch beratend eingreifen?

Griechen haben ihren Regierungen lange misstraut und nun wächst das Misstrauen gegenüber den europäischen Institutionen. In den letzten fünf Jahren haben die Maßnahmen ja nicht zu einem Wirtschaftswachstum geführt, im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit ist jetzt bei 25 Prozent. Andererseits, wenn sich Griechenland selbst überlassen wäre, könnte es noch viel schlimmer werden. Nach dem Nein beim Referendum haben Menschen auf dem Syntagma-Platz in Athen getanzt. Da gab es diesen Moment, wo man das Gefühl hatte: "Wir haben wieder Kontrolle über unser eigenes Schicksal", "Wir fühlen uns nicht mehr ohnmächtig". Aber sie müssen akzeptieren, wenn sie in der Eurozone bleiben wollen, haben sie nicht die volle nationale Souveränität.

Was glauben Sie, wird am Wochenende passieren?

Ich habe immer gesagt, dass es am Ende eine Lösung geben wird. Einfach weil beide Seiten so viel zu verlieren haben. Ich glaube nicht, dass Angela Merkel den Zerfall der Eurozone in ihrem politischen Vermächtnis haben möchte. Und auch die Griechen, die zwar ihre Souveränität zurückhaben wollen, wollen mehrheitlich in der Eurozone bleiben. Jeder griechische Politiker, der sie da hinausmanövriert, würde sehr schnell sehr unbeliebt werden. Also rein basierend auf politischem Kalkül scheint mir, dass es eine Einigung geben muss.

Andererseits hängt auch viel von den Wählern ab. Würde die deutsche Bevölkerung einen für Griechenland günstigen Schuldenschnitt hinnehmen? Kann die griechische Regierung ihre Wähler dazu bringen, harte Maßnahmen wie Pensionskürzungen zu akzeptieren? Es ist zwar schwer, sich einen Kompromiss vorzustellen, aber, ich glaube, wenn die Vernunft die Oberhand behält, wird es zu einer Einigung kommen.

In Ihrem Buch ist immer wieder von Stolz die Rede - werden die Verhandlungen darauf hinauslaufen, welche Partei bereit ist, den jeweiligen herunterzuschlucken?

Ich hoffe, dass das nicht die Art ist, wie Entscheidungen von dieser Tragweite zustande kommen. Wenn das so wäre, würde es viel über die EU aussagen, und wie sehr sich das Projekt von seinen ursprünglichen Intentionen entfernt hat, nämlich Europa stärker zusammenrücken zu lassen.

Aber es ist interessant zu sehen, wie die griechische Regierung das Gefühl in der Bevölkerung gepflegt hat, einer ausländischen Kontrolle Widerstand zu leisten. Die Steuern auf Immobilien, die die Gläubiger verlangt hatten, bekamen etwa in Griechenland den Namen einer ungeliebten Steuer, als Griechenland Teil des Osmanischen Reichs war. Die Sparmaßnahmen, die in griechischen Augen vor allem von den Deutschen gepusht werden, werden als "wirtschaftliche Okkupation von Griechenland" porträtiert. Das ist ziemlich bedenklich. Der Ausdruck hat den unglücklichen Effekt, die Menschen in Griechenland zu entehren, die den Zweiten Weltkrieg, erlebt haben, der in Griechenland besonders brutal war. Hier Vergleiche zu ziehen, ist eine Schande. Aber da hört man gewisse Untertöne in der griechischen Politik. Premierminister Alexis Tspiras hat sogar vor dem Referendum wortwörtlich gesagt: "Wenn sie uns den Krieg erklären, wissen wir, wie wir zu kämpfen haben, und wie wir gewinnen." Er verwendete Worte aus echten Konflikten und damit kitzelt er das Gefühl des Nationalismus in Griechenland. Das kann giftig enden. Und es ist ein emotionales Argument. Es kann das Land dazu bringen, unkluge Entscheidungen zu treffen.

James Angelos. Der ehemalige Journalist ("Wall Street Journal") mit griechischen Wurzeln hat anlässlich des Skandals um die "Insel der Blinden" angefangen, sich vertieft mit dem griechischen System zu befassen. Sein Buch "The Full Catastrophe - Travels Among the New Greek Ruins" ist vor kurzem erschienen.