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Es passt ins Bild Österreich-typischer Abwehrmechanismen, dass zum Thema Korruption immer die internationale organisierte Kriminalität angeführt wird. Doch der patzige, gar nicht so alte Sager eines führenden Beamtengewerkschafters, dass der öffentliche Dienst quasi korruptionsfrei sei, ist neuerdings für immer widerlegt.
Die erste umfassende Untersuchung des Büros für Interne Angelegenheiten - die im Innenministerium angesiedelte nationale Korruptionsbekämpfungsstelle - legt den Verdacht nahe, dass mehr als 600 Exekutivbeamte illegal und gewohnheitsmäßig Trinkgelder für die Begleitung von Gefahrenguttransporten angenommen haben. Ob aber die Staatsanwaltschaft solche "Petitessen" - der über drei Jahre kumulierte "Schaden" für Speditionen belauft sich auf rund 300.000 EUR - ähnlich scharf verfolgt wie jeden notorischen "Hühnerdieb" darf bezweifelt werden. Denn die Gefahr einer Lawine gleichartiger Fälle wäre den ebenfalls beamteten Justizbediensteten wohl viel zu hoch. - Eine "Kaffeekasse" steht praktisch in jeder Kanzlei in Österreichs öffentlicher Verwaltung.
Warum unterscheidet sich im kulturellen Selbstverständnis die österreichische Trinkgeldmentalität so sehr vom orientalischen Bakschisch? Funktional betrachtet ist es das gleiche Phänomen und in seiner strukturellen Tendenz bewirkt es hier wie dort Ungleichheit (wer nicht mitmacht, dessen Angelegenheit wird verzögert). Der in die hiesige Rechtspraxis eingegangene Freibrief für ungehörige Geschenkannahmen erscheint als normatives Faktum im Licht des verfassungsrechtlichen Gleichheitsprinzips überaus zweifelhaft. Soziologisch betrachtet kann dieser angewandte "Kulturfaschismus" gegenüber sogenannten "Basar"-Zuständen, wie sie hier gerne weniger entwickelten Gesellschaften zugeschrieben werden, auch als Armutszeugnis für Österreichs Demokratiestandard erkannt werden.
Die erfreuliche "Aktion scharf" des Innenministeriums gegen potenziell korrupte Beamte darf also kein Einzelfall bleiben. Allein, es ist zu befürchten, dass die neue Gesetzesinitiative zur Abschaffung des vormaligen Tatbestandes unversteuerter Trinkgelder auch bei den mehr als 600 angezeigten Beamten keine strafrechtliche Relevanz mehr erkennen lässt.
Damit aber aus nur allzu menschlicher Disziplinlosigkeit keine systematischen Korruptionsstrukturen wuchern, darauf muss künftig auch von der Zivilgesellschaft kritisch hingewiesen werden. Die kürzlich in einem Wiener Rechtsanwaltsbüro gegründete Österreich-Repräsentanz von "transparency international" (der weltweit führenden Nichtregierungsorganisation gegen Korruption) sollte dazu einiges an Expertise zur Bewusstseinsbildung beitragen können.
Der Autor ist Soziologe in Wien und Gründungsmitglied von transparency international - Austrian chapter