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Korsett für exzessives Spekulieren

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Wirtschaft

Derivatehandel nur noch über Clearinghäuser. | De-facto-Verbot für ungedeckte Leerverkäufe. | Brüssel. Die am weitesten reichende Reform der Finanzmärkte in der EU ist zwei Jahre nach der Pleite der US-Großbank Lehman Brothers in die nächste Runde eingebogen. Exzessive Spekulationen mit Derivaten und Leerverkäufen will Finanzmarktkommissar Michel Barnier diesmal den Kampf ansagen.


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Konkret soll die geplante europäische Börsenaufsicht ESMA (European Securities and Market Authority), die Anfang 2011 ihre Arbeit aufnimmt, weitreichende Befugnisse für die Einschränkung und das vorübergehende Verbot von Leerverkäufen von Aktien und Anleihen erhalten. Ungedeckte Leerverkäufe sollen streng reguliert und damit de facto verboten werden. In Zukunft müsste der Investor nämlich nachweisen, dass er den Kauf oder die Anmietung des zugrundeliegenden Wertpapiers zumindest schon vereinbart hat, wenn sich die jetzigen Vorschläge der EU-Kommission durchsetzen.

Handel oft außerbörslich

Zieldatum für das Inkrafttreten ist Mitte 2012. Davor müssen aber noch die Mitgliedsländer und das EU-Parlament zustimmen.

An sich verbieten könne er die Spekulation nicht, erklärte Barnier. Sie sei ein Bestandteil des alltäglichen Wirtschaftslebens. Auch könnten Leerverkäufe bei der Preisbildung im Börsenhandel durchaus sinnvoll sein. Doch aus dem Ruder laufende Spekulationen - auch in verbriefter Form - müssten eingedämmt werden.

Damit nimmt die EU-Kommission jene hochspekulativen Geschäfte ins Visier, die für die schlimmste Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht werden und für die die Lehman-Pleite der Auslöser war. Nie wieder dürfe der Konkurs eines Unternehmens das gesamte Finanzsystem destabilisieren, so Barnier. "Auf den Finanzmärkten darf es nicht zugehen wie im Wilden Westen."

Denn bisher findet der Handel mit den hochspekulativen Derivaten meist außerhalb der Börse direkt zwischen den Finanzinstituten statt und ist daher sehr unübersichtlich. Künftig sollen diese Geschäfte über Clearinghäuser abgewickelt werden, damit sie transparenter und kontrollierbar werden. Diese zentralen Abwicklungsstellen müssten auch für die jeweilige Gegenpartei einspringen, falls diese pleitegeht oder eine ausstehende Position nicht begleichen kann.

Strenge Meldepflichten

Außerdem sollen große Derivatgeschäfte in ein zentrales Register eingetragen werden. Wird dieser Meldepflicht nicht nachgekommen, setzt es Geldstrafen. "So werden wir wissen, wer was macht und wer wem wie viel schuldet", meinte Barnier. Mit diesem Paket soll vorgebeugt werden, dass ein Domino-Effekt entsteht wie einst bei Lehman. Nach der Zahlungsunfähigkeit der Investmentbank blieben mehr als 10.000 Geschäftspartner auf ihren offenen Positionen sitzen. Die Börsenaufsicht hatte wegen der bilateralen Abwicklung des Handels keinerlei Übersicht über die Verflechtung der Derivategeschäfte Lehmans gehabt.

Gefährlich ist der Derivatehandel im Verborgenen auch wegen seines enormen Umfangs. Auf rund 615.000 Milliarden Dollar (476.000 Milliarden Euro) wurden die Umsätze im Jahr 2009 geschätzt. Massiven Leerverkäufen von Staatsanleihen wird zudem die Verstärkung des Wegs Griechenlands in die Pleite im Frühjahr nachgesagt.

Diese Geschäfte müssen daher künftig ab einem gewissen Umfang bei den Aufsichtsbehörden gemeldet werden. Zu einem allgemeinen Leerverkaufsverbot, wie Deutschland es vor einigen Monaten eingeführt hat, konnte sich Barnier nicht durchringen.

Wissen

Derivate sind Finanzgeschäfte, die sich auf einen Basiswert beziehen und damit von ihm abgeleitet sind (lateinisch: derivare, ableiten). Dieser Basiswert kann etwa eine Aktie, eine Währung oder ein Rohstoff sein. Grundidee des Derivats ist es, unerwünschte Kursentwicklungen des Basiswerts mit einer Art Gegengeschäft abzufedern. Natürlich lassen sich Derivate auch rein zum Spekulieren einsetzen. Derivate haben eine begrenzte Laufzeit und heißen deshalb auch Termingeschäfte. Am bekanntesten sind Futures, Optionen, Zertifikate und Swaps.

Bei ungedeckten Leerverkäufen spekulieren Investoren auf fallende Kurse, wobei die zugrundeliegenden Wertpapiere (meist Aktien oder Anleihen) gar nicht in ihrem Besitz sind.