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Kosmos des Kleinteiligen

Von Bernhard Kathan

Reflexionen
Bescheidene Verhältnisse zwangen in Vorarlberg von jeher zu funktionalem Bauen. Hier die Bergkapelle Andelsbuch. Architektur: Cukrowicz Nachbaur Architekten, Ausführung: Meusburger. Das Bauwerk erhielt als Sieger in der Kategorie "Innovative Holzanwendung" den Vorarlberger Holzbaupreis 2011.
© Foto: Andreas Cukrowicz

In Vorarlberg stehen Kooperation und Konkurrenz in einem vitalen Verhältnis. Das hat - wie vieles andere - mit kulturhistorischen Bedingungen zu tun. Eine Mentalitätsgeschichte des "Ländle".


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Vorarlberger gelten als strebsam, sparsam und fleißig. Bei solchen Zuschreibungen handelt es sich um Stereotype. Gleichzeitig muss man zur Kenntnis nehmen, dass Lebensformen, die über Jahrhunderte bestimmend waren, bestimmte Sozialcharaktere hervorgebracht haben. Menschen, die in zwei- oder mehrsprachigen Gebieten aufgewachsen sind, verfügen verständlicherweise über eine andere Weltsicht als Menschen, die mit anderen Sprachen nie in Berührung kamen.

Kein Großgrundbesitz

Wenn das Stereotyp des strebsamen, sparsamen und fleißigen Vorarlbergers einen wahren Kern haben soll, dann gilt es nach spezifischen kulturgeschichtlichen Bedingungen des Landes zu fragen. Und diese lassen sich gut benennen: In Vorarlberg gab es keinen Großgrundbesitz, das Land war bis in die jüngste Vergangenheit kleinbäuerlich strukturiert. Damit zusammenhängend ist der Barock an diesem Land nahezu spurlos vorübergegangen.

Fahre ich durch das Weinviertel oder andere Regionen in Ostösterreich, dann bin ich immer wieder über Einfamilienhäuser erstaunt, die dort gebaut werden. Sie erinnern mich an Häuser, die in Vorarlberg in den 1960er Jahren errichtet wurden, sieht man einmal von den Erkern und Balustraden ab, all dem Zierrat, der sich heute in jedem Baumarkt kaufen lässt.

Ich kann mir das nur so erklären, dass die jahrhundertelange Abhängigkeit von Grundherren, die zwar Sicherheit, aber wenig Entscheidungsspielraum bot, einen ganz bestimmten Sozialcharakter hervorgebracht hat. Wie auch immer, von Vorarlberg verstand ich jedenfalls erst in dem Augenblick etwas, als ich es von außen betrachtete.

Vorarlbergs Architektur wird zurecht gelobt. Mit der langen Holzbautradition, die ihren besten Ausdruck im Bregenzerwälderhaus findet, lässt sich das nicht ausreichend erklären. Entscheidender ist, dass das damit verbundene handwerkliche Wissen bis in die jüngste Vergangenheit auf breiter Ebene tradiert wurde. Bauen war gemeinschaftliches Tun. Ich etwa wuchs mit Holz und Beton auf. Obwohl ich nie eine handwerkliche Ausbildung gemacht habe, sind mir Holzkons-truktionen vertraut. Ich weiß wie eine Betonmischung für diese oder jene Funktion auszusehen, wie Mörtel von der Kelle zu gleiten hat. Ohne jede Ausbildung war ich in der Lage, ein Holzgebäude zu planen. Der zuständige Zimmermann jener Firma, die mit der Errichtung des Gebäudes beauftragt war, hat einzig an zwei Stellen eine minimale Korrektur des Planes vorgenommen. In der kleinteiligen bäuerlichen Struktur waren solche Fertigkeiten gefordert. Auch die Funktionalität, welche die heutige Architektur in Vorarlberg ausmacht, verdankt sich entscheidend dieser Vergangenheit. Die bescheidenen Verhältnisse zwangen zu funktionalem Bauen. Die Schönheit von Gebäuden verdankte sich weniger angebrachtem Schmuckwerk als guten Proportionen. Nach üppigen Ziergiebeln wird man in Vorarlberg vergeblich suchen, sieht man von einzelnen Bürgerhäusern ab, die um 1900 dem damaligen Geschmack entsprechend errichtet wurden. Einen solchen Luxus erlaubten die durch das Erb-recht bedingten bescheidenen Betriebsgrößen nicht. Üppige Ziergiebel sind im Umland von Innsbruck zu sehen. Dank anderer Erbregelungen waren die Höfe dort wesentlich größer.

Folgen der Realteilung

In Vorarlberg galt die Realteilung, bei der alle Kinder erbberechtigt waren. Wurde diese auch nie so radikal praktiziert wie etwa in Eisensteins Film "Die Generallinie", in dem zwei Brüder nicht nur die geerbten Grundstücke, sondern auch das elterliche Haus buchstäblich teilen, indem sie es in der Mitte auseinandersägen, so hatte es doch zur Folge, dass die bewirtschaftbaren Flächen zunehmend kleiner wurden, der Verlust sich bestenfalls durch eine entsprechende Heirat kompensieren ließ.

Neben nachteiligen ökonomischen Auswirkungen hatte die Realteilung eine Vielzahl gesellschaftlicher Folgen, die keinesfalls nur negativ zu bewerten sind. Sie förderte eine gewisse Gleichheit. Frauen und Männer waren gleichermaßen erbberechtigt. Ein einzelnes Kind armer Eltern konnte mehr erben als ein Kind aus einer vermögenden, aber kinderreichen Familie. Noch heute überwiegt in Vorarlberg das Gefühl von Zusammengehörigkeit jenes tatsächlicher Einkommensunterschiede. Immer noch gilt es als anstößig, eigenen Reichtum allzusehr zur Schau zu stellen, ganz im Gegensatz zu anderen Gegenden Österreichs, in denen Prestige, Macht und gesellschaftliche Stellung auch architektonisch inszeniert sein wollen.

Das Kleinteilige hat seinen Niederschlag auch in der Werbung, in Markennamen wie in der Alltagssprache gefunden: "Ländle", "Ländle Milch", "natürlich vom Ländle", "LändleTV", "Ländlemetzg", "Ländlebäck", "a hüsle", "a schöas tägle" etc.

Kleinhandwerkertum

Da die Betriebsgrößen zu klein waren, um eine Familie zu ernähren, waren die meisten Bauern zu einem handwerklichen Nebenerwerb gezwungen, sei es als Schuster oder Tischler. Für Vorarlberg ist insbesondere die Heimstickerei zu nennen. Im Zuge der Industrialisierung konnten Fabrikanten auf eine breite Schicht von erfahrenen Kleinhandwerkern zurückgreifen.

Dass sich das Rheintal zu einem boomenden Technologiepark entwickelt hat, verdankt sich neben seiner geographischen Lage und einer guten Infrastruktur den erwähnten Dispositionen. Entscheidend für den Erfolg vieler Unternehmen war jenes außerschulische Wissen, welches Arbeiter und Angestellte mitbrachten, die in kleinbäuerlichen Verhältnissen aufgewachsen waren: lösungsorientiertes Denken, eine Begabung zur Improvisation, ein hohes materialkundliches wie technisches Verständnis, nicht zuletzt die von Kind an trainierte Bereitschaft, sich dem Geforderten unterzuordnen.

In Vorarlberg funktioniert manches besser als andernorts. Man denke etwa an die Verwaltung oder die Bürgerbeteiligung. Es gibt einen hohen Grad an Selbstorganisation und Eigeninitiative. Ist man an einem Wochenende darauf angewiesen, ein Ersatzteil für ein Gerät aufzutreiben, wird man mit großer Wahrscheinlichkeit fündig. Man muss nur mit einigen Leuten telefonieren, um an diesen oder jenen verwiesen zu werden. Die kleinen Bauern pflegten Dinge aufzuheben, die sie nicht mehr brauchten.

Diese Neigung ist nach wie vor wirksam. Auch die Begabung zur Improvisation gründet letztlich in der Arbeitsorganisation der kleinen Bauern. Schließlich müssen Räume verfügbar sein, in denen sich Dinge aufheben lassen. Die in Vorarlberg vorherrschende Architektur bietet einen Überschuss an Raum: leerstehende landwirtschaftliche Objekte, überdimensionierte Garagen. . .

Als Beispiel für den hohen Grad an Selbstorganisation sei der "Werkraum Bregenzerwald" genannt, in dem sich unterschiedliche Handwerker zusammengeschlossen haben, um ihre Produkte besser auf dem Markt zu positionieren. Das vom Schweizer Architekten Peter Zumthor in enger Zusammenarbeit mit Handwerkern in Andelsbuch realisierte Ausstellungsgebäude ist von beeindruckender Größe. In Vorarlberg stehen Kooperation und Konkurrenz in einem höchst vitalen Verhältnis.

Wohl kein anderes Bundesland kennt ein so ausgeprägtes Vereinswesen wie Vorarlberg. Auch das ist historisch begründet. Das Leben der kleinen Bauern wurde durch eine Vielzahl von Ausschüssen geregelt. All das hieß auch Teilhabe, was nicht zuletzt die Fähigkeit zur Selbstorganisa-tion erklärt. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hatten die Bauern noch "Fronarbeit" zu leisten, das heißt, so und so viele Tage im Jahr für gemeinschaftliche Projekte zu arbeiten, für Projekte, die sie selbst gemeinsam beschlossen hatten. Dies konnte sich auf die Errichtung von Almhütten, Wasserleitungen, Wegearbeiten oder anderes beziehen.

Franz Michael Felders Bemühungen im neunzehnten Jahrhundert, das Leben der einfachen Bauern durch genossenschaftliche Organisationen zu verbessern, wären ohne diesen Hintergrund wohl undenkbar gewesen. (Zu Felder siehe auch Beitrag auf Seite 37, Anm.)

Zu den Regulativen zählte die Losentscheidung. Durch Losentscheid wurde etwa jedem jährlich eine bestimmte Holzmenge zugewiesen. Auch Almrechte konnten durch das Los entschieden werden. So getroffene Entscheidungen wurden in der Regel von allen anerkannt. Und wer sich im Nachteil sah, konnte hoffen, beim nächsten Mal mehr Glück zu haben. Los meint ja auch Schicksal, das Zugeteilte ebenso wie das Hineingeworfen-Sein in eine harte Welt. Die Menschen standen nicht nur in Konkurrenz zueinander - sie waren aufeinander angewiesen, sie mussten miteinander auskommen, sich verständigen.

Viel Gemeinsames

Weiters ist die Allmende, die ihre ursprüngliche Funktion längst verloren hat, als prägende Einrichtung zu nennen. Neben Grundstücken in Privatbesitz fanden sich solche, die im Besitz der Gemeinde oder der Bürger waren, dorfnahe Grundstücke, Almen oder Wald. Grundstücke, die den Bürgern gemeinsam gehörten, wurden entsprechend den geltenden Statuten zugeteilt und genutzt. Laut Statuten hatten nur Bürger Anspruch. Bürger konnte nur sein, wer im Ort geboren war und über einen eigenen Herd verfügte. Nutzungsrechte wurden dem Erstgereihten jeweils dann zugesprochen, wenn Ansprüche auf eines dieser Grundstücke durch Tod oder Ortswechsel verfielen. Nicht zuletzt ließ sich so das Abrutschen Einzelner in völlige Armut verhindern.

Noch heute ist viel vom Gemeinsamen die Rede. Gleichzeitig scheint das Bedürfnis groß, sich mit Hilfe von Hecken, Gabionen oder Mauern von den Nachbarn abzugrenzen. Wie oft hörte ich Frauen klagen, wie viel Arbeit es sei, für diesen oder jenen Vereinsanlass Torten zu backen. Das Klagen hilft nicht, wirft man ein, dazu werde man ja nicht gezwungen. Es wird trotzdem gebacken, gebügelt, gestrickt, gehäkelt und geputzt und weiterhin geklagt.

Dabei stehen Vereine keineswegs jedem offen. Selbst die Feuerwehr nicht. Man muss aufgenommen werden. Man muss Zugehörigkeitsarbeit leisten. In einer so organisierten Gesellschaft kann es keine wirklich öffentlichen Debatten geben. Sehr viele Entscheidungen werden vorab auf informeller Ebene getroffen. Wird Kritik von Personen geübt, die nicht vernetzt sind, so wird diese nur zu rasch als Nestbeschmutzung oder ähnliches abgetan. Kritik lässt sich nur dann erfolgreich äußern, ist diese mehrheitsfähig.

Vorarlberg ist kein Land, in dem die freie Rede hochgehalten wird, oder das Recht, eine andere Meinung zu haben, manchmal eben auch etwas Verstörendes zu sagen. "Ghörige lüt": Man sieht sich als ordentlich, sauber, also im Gegensatz zu anderen, zugehörig, wobei auch "hörig" mitschwingt.

Jeder kennt jeden. Hat man etwa im Kulturbereich mit mehreren Projekten zu tun, begegnet man zumeist denselben Menschen, mögen diese auch in wechselnden Rollen auftreten. So kann ein "externer Experte" alle anderen Akteure seit Jahren kennen und mit den meisten von ihnen befreundet sein. Wer Erfolg haben will, muss sich andienen. Finanzielle Zuwendungen der öffentlichen Hand werden zumeist als persönliche Zuwendungen verstanden, für die man wiederum zu persönlichem Dank verpflichtet ist. So denken nicht nur Bauern, die für bewilligte Förderungen oft genug einen hohen Preis zu zahlen haben. Im Kulturbereich ist es nicht viel anders. Hier sind die Kosten dort zu sehen, wo notwendige Kritik nicht geäußert wird. Das hat eine gewisse Enge zur Folge, die nicht jeder erträgt.

Eigener Katholizismus

Das Rheintal ist eine der dynamischsten Wirtschaftsregionen Europas, ein großes zusammenhängendes Siedlungsgebiet, ein Geflecht von Dörfern, denen das Dörfliche abhanden gekommen ist, die aber keine Stadt zu bilden vermögen. Das Rheintal ist ein Speckgürtel ohne urbanen Kern.

Der Katholizismus, der sich in Vorarlberg ausgebildet hat, hat mit dem Katholizismus andernorts wenig gemein. Man ist katholisch, übt sich aber in protestantischer Ethik, in so etwas wie einem "calvinistischen Katholizismus". Damit wären wir beim sprichwörtlichen Fleiß, beim Funktionalen, aber auch bei der Selbstkontrolle.

Ich erinnere mich an ein Rockkonzert, bei dem es ziemlich laut zuging. Manche der Songtexte waren grenzwertig. Ich dachte, da wird der Aufstand geprobt. Umso erstaunter war ich, als ich am nächsten Morgen Jugendliche beim Einsammeln selbst jeder noch so kleinen Zigarettenkippe sah. Stunden später erinnerte nichts mehr an den Vorabend, nicht eine Aludose, keine einzige Bierflasche war zu sehen.

In Vorarlberg finden sich wie andernorts Beispiele barocker Architektur. Wirklich imposante Barockbauwerke, die sich etwa mit dem Kloster in Einsiedeln oder jenem in St. Gallen vergleichen ließen, finden sich aber nicht. Dabei verdanken sich bedeutende Barockbauten vor allem im Bodenseeraum Bregenzerwälder Baumeistern und Stuckateuren.

Es gab keinen nennenswerten Großgrundbesitz. Aus dem Land ließ sich nicht viel herauspressen. Das Rheintal war damals noch zum größten Teil Aulandschaft, das Leben der einfachen Bauern kärglich: Wollten die Menschen eine üppige Inszenierung sehen, dann pilgerten sie nach Einsiedeln. Aber Teil ihres Lebens war dieser Barock nicht. Das Land war nie ein guter Nährboden für üppige Bilder. Schriftsteller wie Thomas Bernhard oder Josef Winkler sind hier undenkbar.

Museen als Pilgerorte

Freilich wäre der hier praktizierte Katholizismus unvorstellbar ohne die restaurativen Bemühungen der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts, die damals auf die Industrialisierung reagierte. Diesbezüglich lohnt es sich, einige der neogotischen Kirchen anzuschauen, die damals in vielen Orten errichtet wurden, mit Josephs-Figuren auf Seitenaltären. Joseph als Schutzpatron der Arbeiter. Nicht zuletzt ist das der Nährboden, dem sich die funktionale Architektur Vorarlbergs verdankt.

Nachdem Einsiedeln seine Bedeutung als Wallfahrtsort verloren hat, hat sich Vorarlberg mit dem Kunsthaus Bregenz (KUB) zwar einen imposanten, aber alles andere als barocken Pilgerort geschaffen. Hier wird ein diesseitiger calvinistischer Katholizismus praktiziert. Inzwischen wurde auch das Vorarlberg Museum in Bregenz mit beachtlichem Aufwand eröffnet. Über Vorarlberg erfährt man dort allerdings wenig. Ja, die Textilindustrie war von Bedeutung, Migration prägt das Land. Aber statt wirklicher Auseinandersetzung werden zumeist Klischees reproduziert.

Wer etwas über Vorarlberg erfahren will, dem sei empfohlen, statt ins KUB oder das Vorarlberg Museum sich in ein x-beliebiges Dorfgasthaus zu setzen. Ich saß unlängst in einem solchen Gasthaus. An den Nebentischen fand eine Betriebsfeier statt. Der Firmenchef, ein etwa 70-jähriger Mann, Kind italienischer Eltern, die in der Zwischenkriegszeit nach Vorarlberg kamen, meinte in breitestem Oberländer Dialekt: "Wir waren die ersten Türken!"

Bernhard Kathan, geboren 1953 in Fraxern/Vorarlberg, lebt und arbeitet als Kulturhistoriker, Schriftsteller und Künstler in Innsbruck. Gerade ist sein Essay "Wir sehen Tiere an" im Limbus Verlag erschienen.

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