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Krabbelnde Folterknechte

Von Kerstin Viering

Wissen
Füßchen mit Widerhaken helfen den Ameisen auch beim Tragen schwerer Lasten. Foto: corbis

Spektakuläre Überfälle der Gemeinschaftsjäger. | Ameisen als Erfinder des Streckbetts und des Klettverschlusses. | Berlin. Die Motte hat keine Chance: Ein Heer von winzigen Ameisen hält ihre Flügel fest. Obwohl sie -zigmal so groß ist wie ihre Angreifer, kann sie sich nicht befreien. Hilflos flattert sie mit den Flügeln, bis genug Feinde herbeigeströmt sind, um den Falter zu töten. Wieder einmal haben die Ameisen der Art Azteca andreae einen ihrer spektakulären Überfälle erfolgreich zu Ende geführt.


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Mit welchen Tricks sie dabei arbeiten, hat Alain Dejean vom Centre National de la Recherche Scientifique in Kourou in Französisch-Guyana untersucht. Sogar ein körpereigener Klettverschluss gehört zu den Erfolgsgeheimnissen der krabbelnden Räuberbanden, berichten die Forscher.

Die Ameisenart gehört zu jenen Vertretern ihrer Verwandtschaft, die mit Pflanzen zusammenleben. Der grüne Partner von Azteca andreae ist der südamerikanische Tropenbaum Cecropia obtusa. Er bietet den Ameisenkolonien Unterkunft in seinem hohlen Stamm und produziert auf seinen Blättern kleine, nahrhafte Häppchen für seine Gäste. Davon allein kann sich das Ameisenvolk jedoch nicht ernähren. Es muss zusätzlich auf die Jagd gehen. Davon profitiert wiederum der Baum. Denn die Ameisen erlegen gefräßige Insekten, die sonst an seinem Laub knabbern würden.

Dazu legt sich die krabbelnde Gesundheitspolizei unter den Blättern auf die Lauer. Mit aufgerissenen Mundwerkzeugen reihen sich die Arbeiterinnen an den Blatträndern auf und warten, bis ein Insekt landet. Die Erschütterung alarmiert die zehn Ameisen, die dem Landeplatz am nächsten sitzen. Sie attackieren ihre Beute und treiben sie vor sich her bis zum Blattrand. Dort stürzt der Rest der wartenden Räuberbande aus seinem Hinterhalt, packt das Tier und zerrt es unter das Blatt. Nach ein paar Minuten haben die Angreifer ihr Opfer mit ausgestreckten Gliedmaßen wie auf einer Streckbank fixiert. Dann brauchen sie es nur noch mit vereinten Kräften totzubeißen und in ihr Nest zu schleppen. Manche Opfer zerlegen die sechsbeinigen Folterknechte sogar an Ort und Stelle.

Bei solchen Überfällen schreckt die Ameisen-Armee auch vor scheinbar überlegenen Gegnern nicht zurück. Die Forscher haben sogar eine erfolgreiche Attacke auf eine mehr als zehn Zentimeter lange und 18 Gramm schwere Heuschrecke beobachtet. Das Opfer wog damit 13.000 Mal so viel wie jede seiner Angreiferinnen. Um mit solchen Brocken fertigzuwerden, setzen die kleinen Insekten zum einen auf zahlenmäßige Überlegenheit: Auf einem einzigen Baum lauern mehr als 8000 Jägerinnen gemeinsam auf Beute.

Die Davids gegen Goliath

Trotzdem muss jede einzelne Ameise noch gewaltige Kräfte besitzen, damit sie im Kampf der Davids gegen Goliath bestehen kann. Um die Stärke der Tiere zu testen, haben die Forscher Gewichte an das Ende eines Fadens geklebt und das andere Ende den jagenden Ameisen vor die Mundwerkzeuge gehalten.

Prompt griffen die Tiere zu und ließen selbst vier Gramm schwere Münzen scheinbar mühelos von ihren Mundwerkzeugen herab baumeln. Weder brauchten sie dazu die Hilfe, noch stürzten sie mit ihrer Last von der Blattunterseite. Besonders gut klappten solche Kunststücke auf der flauschigen Unterseite von Cecropia obtusa-Blättern. Schlechter schnitten die krabbelnden Gewichtheber ab, wenn die Forscher sie auf ein Stück Plastik oder die glatteren Blätter setzten. Woran das liegt, zeigt ein Blick auf die Füße der Ameisen. Die sind nämlich mit winzigen Krallen ausgerüstet, die sich in den samtigen Blattunterseiten ihrer Lieblingsbäume verhaken und den Tieren so einen festen Halt garantieren.

Die raffinierten Baumbewohner haben also nicht nur die Gemeinschaftsjagd und allerlei Foltermethoden erfunden, sondern auch den Klettverschluss. Und die soziale Ordnung. US-Forscher berichten in "Science", dass eine Ameise nicht als Soldat, Arbeiterin oder Königin zur Welt kommt, sondern ihre Funktion erst lernt. Und die Funktion liege nicht in den Genen, sondern wird ihnen durch epigenetische Veränderungen, die die Ausprägung von Genen steuern, erst "eingegeben".