Der russische Oppositionsführer Michail Kasjanow über die Skandale in der Opposition und die Parlamentswahlen am 18. September.
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Hackerangriffe, Drohungen, ein Sextape: Die russische Opposition wird von Skandalen erschüttert. Zuletzt wurde Michail Kasjanow, der als Oppositionsführer fünf Parteien in der "Demokratischen Koalition" in die Wahlen am 18. September führen soll, in seiner Wohnung bei einem Stelldichein mit einer Parteikollegin gefilmt. Die Aufnahme wurde im kremltreuen Fernsehsender NTW ausgestrahlt. Auf dem Video zieht Kasjanow über seine Mitstreiter - darunter den Oppositionellen Alexej Nawalni - her. Die "Wiener Zeitung" hat Kasjanow in Moskau getroffen.
"Wiener Zeitung": Herr Kasjanow, nach dem Videoskandal ist die demokratische Koalition zerfallen. Wie geht es weiter?
Michail Kasjanow: Die Koalition ist nicht zerfallen. Nur Alexej Nawalni ist aus der Koalition ausgestiegen, aber die regionalen Aktivisten sind geblieben. Ich bedaure das natürlich, aber das bedeutet jetzt nicht, dass alles im Eimer ist. Es hätte besser laufen können, aber es ist kein existenzieller Faktor, der unsere Pläne zerstört.
Vor allem nach dem Videoskandal gab es viel Kritik daran - auch aus Ihrer eigenen Partei -, dass Sie als Listenerster nicht an den internen Vorwahlen teilgenommen haben. Warum haben Sie sich nicht zur Wahl gestellt?
Meine Position stand nie zur Debatte! Und dieser Skandal wird auch nichts daran ändern. Im Gegenteil sollte man jetzt seine Kräfte bündeln, anstatt klein beizugeben.
Auch auf die Gefahr hin, die Chancen bei den Wahlen zu schmälern?
Das wird unser Potenzial nicht verringern. Weil wir wissen, dass es nach uns eine wirkliche Nachfrage gibt. Es mag ja sein, dass die Nawalni-Aktivisten jetzt seiner Position folgen. Aber in den Regionen ist alles gleich geblieben.
Was ist Ihr Ziel bei den Wahlen?
Wir wollen die Fünf-Prozent-Hürde überschreiten und als Fraktion in die Staatsduma einziehen. Ideal wäre es, unser ganzes Potenzial von zwölf bis 15 Prozent auszuschöpfen.
Die demokratische Koalition hat in sich liberale und nationalistische Positionen vereint, wie Nawalnis Position zur Krim. War die Koalition von Anfang an zu heterogen?
Das denke ich nicht. Ich habe einfach eine ganz klare Position zur Krim, und Nawalni eine etwas weniger klare (Nawalni hat in einem Interview gesagt, die Krim werde niemals Teil der Ukraine sein, Anm.). Wir teilen aber die Meinung, dass die Krim ein Territorium ist, das ungesetzlich annektiert wurde. Es gibt keine ideologischen Unterschiede.
Was eint Sie abgesehen davon, dass Sie gegen Putin sind?
So gut wie alles andere: Wirtschaftspolitik, Außenpolitik, Innenpolitik und Menschenrechte.
Also hängt die Spaltung in der Opposition mit den Ambitionen von Einzelpersonen zusammen?
Ich bitte Sie, es gibt keine Spaltung! Den Skandal haben doch alle bald wieder vergessen. Das wird unsere Chancen bei den Wahlen nicht verringern. Drei Aktivisten in Moskau sind aus der Koalition ausgestiegen, alle anderen Aktivisten der Parteien sind geblieben. Die "Libertäre Partei", "Solidarnost", die "Partei des 5. Dezember", die Partei "Demokratische Wahl" nehmen alle teil. Es gibt keine Spaltung.
Was werden die Hauptthemen für die Wahlen sein?
Innenpolitik, Menschenrechte und Korruption, das ist die eine Richtung. Priorität hat aber die zweite Richtung: die Wirtschaft. Putin hat das Land in diese schwerwiegende systemische Krise geführt. 65 Prozent der Russen wissen, dass am 18. September gewählt wird. Aber nur 25 Prozent wollen wählen gehen. Die Menschen glauben einfach nicht mehr an die Wahlen.
Wie wollen Sie die Wähler mobilisieren?
Wir müssen die Mittelschicht mobilisieren. In den 20 größten russischen Städten haben wir sechs Millionen potenzielle Anhänger. Wir müssen es schaffen, dass zumindest vier Millionen von für uns stimmen. Wir müssen sie überzeugen, dass das überhaupt die letzten Wahlen in der Russischen Föderation sein könnten. Die nächsten Wahlen könnten ja schon abgesagt werden.
Was meinen Sie damit?
Das wird eine Richtungswahl! Wenn es in diesem Jahr keine bedeutenden Änderungen geben wird, dann wird sich alles weiterhin in die negative Richtung entwickeln. Das bedeutet den Weg zur Revolution, ins Chaos. Haben Sie gesehen, was vor kurzem in Kuban passiert ist? (Der Oppositionelle Nawalni und sein Team wurden von Aktivisten vor laufender Kamera und in Anwesenheit von Polizisten verprügelt, Anm.) Das ist schon der Beginn dessen. Und wir sagen: Liebe Bürger der Mittelklasse, wacht auf und geht wählen! Sonst wird es bald keine Wahlen mehr geben.
Ist das nicht etwas apokalyptisch?
Das sind nun mal keine gewöhnlichen Wahlen. Und es ist auch kein gewöhnliches Jahr. Sehen Sie, mit welcher Schnelligkeit sich die Lage verändert? Wie schnell Gesetze verabschiedet werden? Jeden Tag werden die Freiheiten der Bürger weiter eingeschränkt. Der Nationalgarde wird erlaubt, auf Menschen zu schießen, wenn sie glauben, dass von ihnen Gefahren ausgehen. Jetzt wird das Anti-Terror-Gesetz angenommen, dass die Leute nicht mehr ins Ausland fahren dürfen. Vor drei Jahren hat Putin das Urteil des Europäischen Gerichtshofes erfüllt, unsere Partei zu registrieren. Heute pfeift er auf die Entscheidungen des Gerichtshofes. In diesen drei Jahren hat sich Russland grundlegend verändert.
Vor einem Jahr wurde der Oppositionelle Boris Nemzow ermordet. Sie selbst wurden zuletzt öffentlich und direkt vom tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow bedroht, er hat ein Video hochgeladen, mit Ihnen im Zentrum der Schusslinie eines Gewehrlaufes...
Dieser Druck geht weiter. Vor allem unsere Vertreter in den Regionen werden mit Strafverfahren und Razzien eingeschüchtert. Aber das bedeutet, dass sich der Machtapparat vor uns fürchtet. Weil sie verstehen, dass eine Stimme für uns eine wirkliche Alternative ist. Und wenn wir uns das Unvorstellbare vorstellen, dass wir eine Mehrheit bilden können, dann werden wir einen neuen politischen Kurs einschlagen. Deswegen wird mir mit der Zielscheibe eines Gewehres gedroht. Deswegen installieren die Spezialdienste eine Überwachungskamera in meiner Wohnung. Deswegen werde ich in Moskau von Aktivisten mit Eiern und einer Torte beschossen.
Haben Sie denn eine Vermutung, wer hinter dem Video steckt?
Das kann nur der russische Inlandsgeheimdienst (FSB) oder der föderale Dienst für Überwachung gewesen sein.
Werden Sie rechtliche Schritte einleiten?
Nein. Das ist doch reine Zeitverschwendung. Es gibt doch sowieso keine Gerechtigkeit bei den russischen Gerichten.
Sie haben als Ministerpräsident Anfang der 2000er Jahre eng mit Wladimir Putin zusammengearbeitet. Wie hat sich Putin seither verändert?
Heute sehen wir einen ganz anderen Putin als damals. Als ich in der Regierung war, hat Putin die Reformen unterstützt, die die Regierung gemacht hat. Es hat Fehler gegeben - der Druck auf die Medien -, aber grundsätzlich hat die Richtung gestimmt. Der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel hatte mich zum Skilaufen nach Lech am Arlberg eingeladen. Dort habe ich auch Boris Nemzow getroffen. Der Geheimdienst ging davon aus, dass wir, Boris und ich, an einem Putsch arbeiten. Zwei Wochen vor den Wahlen hat Putin dann die Regierung abberufen.
Das war Ihr Weg in die Opposition.
Damals lief schon der Wahlkampf. Putin und sein Umfeld haben damals geglaubt, dass ich die Präsidentschaftskandidaten auffordere, ihre Kandidatur zurückzuziehen und dass somit die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent fällt. Dann wären die Wahlen ungültig gewesen. Und der Premierminister - also ich - wäre zumindest interimistisch Präsident gewesen. Sie haben geglaubt, dass ich so die Macht an mich reißen möchte. Ich bin dann in die Wirtschaft gegangen. Ein Jahr später bin ich wieder - allerdings als Oppositioneller - zurückgekehrt, als ich gesehen habe, in welche Richtung sich das Land unter Putin bewegt.
Michail Kasjanow wurde in der ersten Amtszeit Putins zum russischen Ministerpräsidenten ernannt (2000 bis 2004). Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen 2004 wurde Kasjanow auf Erlass Putins entlassen. 2010 gründeten Kasjanow (58) und der später ermordete Boris Nemzow die Partei der Volksfreiheit (Parnas).