Zum Hauptinhalt springen

Kranke absondern? Aussichtslos!

Von Judith Belfkih

Reflexionen
Der Erreger unterm Mikroskop: Das Virus, das 1918 die Spanische Grippe-Pandemie auslöste.
© getty / BSIP / Kontributor

Schließungen von Schulen und Theatern, Engpässe in Spitälern, Hamsterkäufe - viele Folgen der Spanischen Grippe erinnern an die Corona-Krise. Eine Rekonstruktion der Pandemie 1918 mit historischen Passagen der "Wiener Zeitung".


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Medien spielen nicht erst seit Corona eine wichtige Rolle in Pandemien - sowohl in ihrer Dokumentation als auch in ihrer Bekämpfung. Schon 1918 dienten sie der medizinischen Aufklärung, der Information über die aktuelle Lage und der Verlautbarung von behördlichen Maßnahmen. Vom Rätseln über Ansteckungswege und dem Schaffen medizinischer Ressourcen bis zum Schließen von Schulen: Die Parallelen in den Pandemien von 1918 und 2020 sind mitunter erstaunlich. Eine Spurensuche im Wien anno 1918 anhand von historischen - gekürzten - Auszügen der "Wiener Zeitung".

Auch die Spanische Grippe war nicht einfach da, sie näherte sich an. Erstmals vermeldet wurde sie in der "Wiener Zeitung" aus Berlin am 3. Juli 1918: "Die ,spanische Grippe‘ genannte Influenzaepidemie dehnt sich über das Reich aus. In Karlsruhe, Mannheim und Ludwigshafen ergriff die Krankheit durchschnittlich ein Drittel der Bevölkerung. (Sie) nimmt durchwegs einen gutartigen Verlauf; ernste Fälle sind Seltenheiten."

Im Juli rückt die Grippe näher und wird ernster. 22. Juli 1918: "Die in der Schweiz grassierende Grippeepidemie hat einen ernsten Umfang angenommen und infolge der ziemlich zahlreichen Komplikationen mit Lungenentzündung, Brustfellentzündungen in verhältnismäßig vielen Fällen zu tödlichem Ausgange geführt." Auch 1918 machen Gerüchte die Runde, Grenzsperren sind bereits Mittel der Pandemie-Bekämpfung am 21. August: "Die Gerüchte, daß in der Schweiz Lungenpest beobachtet worden sei und daß sogar nahe unserer Grenze, zwei Menschen an Lungenpest gestorben wären, haben sich als unrichtig herausgestellt." Es habe sich vielmehr "um eine Form der sogenannten Spanischen Grippe gehandelt". Daher wurde "die in Vorarlberg vorsichtshalber angeordnete strenge Grenzsperre wieder aufgehoben."

Mit Herbst 1918 erreicht die Grippe Budapest, Schulen schließen, es wird beschwichtigt am 20. September:"Seit Eintritt des Herbstwetters macht sich in Budapest eine stärkere Verbreitung der spanischen Grippe bemerkbar. Sehr stark beginnt sich die Krankheit in den Schulen zu verbreiten, sodaß einzelne Klassen geschlossen werden mussten. Zu Besorgnis ist kein Grund vorhanden, denn die Krankheit nimmt meistens einen milden Verlauf." Das liest sich eine Woche später nicht mehr so harmlos, in Ungarn herrscht Ratlosigkeit, am 27. September hat die spanische Grippe "bereits den Charakter einer Seuche angenommen. Leider kennt man die Krankheit noch zu wenig, alsdaß man ihr mit Erfolg entgegentreten könnte. Die Tätigkeit der Sanitätsbehörden beschränkt sich daher bloß auf die Isolierung der Kranken und Schließung der Schulen, in denen die Grippe stark grassiert."

Außerordentlich übertragbar

Am 2. Oktober 1918 ist die Grippe offiziell in Wien angekommen: "Die Anzahl der Todesfälle durch Lungenentzündung, die zum größten Teil auf die spanische Grippe zurückzuführen sind, ist gestiegen. Die bei ansteckenden Krankheiten sonst in Betracht kommenden Maßnahmen, wie Absonderung der Kranken und Desinfektion können bei der außerordentlichen Übertragbarkeit der Grippe sowie bei dem Umstande, daß an ihr gleichzeitig eine große Anzahl von Personen an den verschiedensten Orten erkrankt, nicht durchgeführt werden. Bemerkenswert ist, daß von der Krankheit meist jugendliche Personen befallen werden."

Im Oktober wird die Lage ernst, die Behörden beruhigen am 6. Oktober 1918: "Unter zahllosen Fällen mit mildem Verlaufe werden auch jetzt wieder Fälle beobachtet, die mit Lungenentzündungen kompliziert sind und einen ernsten, ja selbst tödlichen Verlauf nehmen. Glücklicherweise ist die schwere Form nur die Ausnahme. Behördliche Maßregeln werden zum Schütze vor der Ausbreitung der Grippeepidemie kaum etwas beitragen können. Die Krankheitserreger werden durch Leichtkranke allüberall verbreitet, die Übertragung von den Kranken auf die Gesunden geht meistens schon zu einer Zeit vor sich, ehe noch die Kranken selbst sich ihres Leidens überhaupt bewußt sind. Das Ergreifen von Absonderungsmaßregeln ist daher aussichtslos." Die Bevölkerung soll sich isolieren, "indem Gesunde den Verkehr mit Grippekranken soweit als möglich meiden."

Um medizinische Engpässe zu vermeiden, "wurden bereits Vorkehrungen zur tunlichsten Erweiterung des Belagraumes in den öffentlichen Krankenanstalten unter Verwendung der Notspitäler der Gemeinde Wien getroffen. An eine Aufstellung von Baracken kann allerdings mit Rücksicht auf den Mangel an Arbeitskräften, der Baumaterialen und der gewöhnlichsten Spitalseinrichtungsgegenstände nicht gedacht werden."

Am 8. Oktober ist von Schulklassenschließungen die Rede: "Im Laufe des Samstagnachmittags sind im städtischen Gesundheitsamt die Meldungen, über Schul- und Klassenschließungen ständig gestiegen. Von den 5000 Volks- und Bürgerschulklassen der Stadt waren bis Samstag 1000, also ein Fünftel, geschlossen."

Die Politik wird in die Pflicht genommen und muss sich am 10. Oktober 1918 bei einer "Interpellationsbeantwortung" rechtfertigen. Es herrscht kaum Klarheit über die Ansteckungswege: "Was endlich die Verhütung der Grippe anlangt, so scheitert eine wirklich wirksame Abwehr vor allem an dem Umstände, daß wir den Erreger der derzeitigen Epidemie nicht kennen. Sicher ist aber, daß die Gesunden von den Kranken größtenteils unmittelbar angesteckt werden; ebenso sicher ist, daß Leute, die von leichtkranken Grippekranken angesteckt werden, durchaus nicht immer nur an einer leichten Grippe erkranken, sondern daß sie auch eine schwere, ja selbst eine tödliche Form der Grippe bekommen können. Theoretisch müßte man daher schon alle Leichtkranken isolieren, was praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist."

Maßnahmen außer Schulschließungen erscheinen nicht umsetzbar: "Das Verbot anderer Ansammlungen von Menschen, unter denen sich ja immer Leichtkranke befinden werden, die ihre Krankheit weiterverbreiten, wie der Besuch von Kaffeehäusern, Kinos, Theatern u.s.w., wird wohl kaum viel nützen, so lange nicht die hauptsächlichsten Ansammlungen von Menschen, wie sie im alltäglichen Verkehre bestehen, z. B. auf der Straßenbahn, auf der Eisenbahn, ja sogar beim Einkaufe von Lebensmitteln, nicht ausgeschaltet werden können. Derlei ist aber doch ganz undenkbar, weil man sonst allen Verkehr unterbinden müßte." Lockdown würden wir diese Optionen heute nennen.

In Spitälern wird umgeschichtet: "Bei jedem einzelnen Krankenhause wurde die Einrichtung eigener Grippezimmer angeordnet. (Es) wurde die Verwendung des Tuberkulosenpavillons beim Kaiser-Jubiläums-Spitale der Stadt Wien für den Zivilbedarf eingeleitet." Der Handel mit Medikamenten wird eingeschränkt: "Um das Hamstern und den Schleichhandel mit dem in den Apotheken im Handverkauf erhältlichen Aspirin möglichst zu verhindern, wurde die Verfügung getroffen, daß dieses Mittel im Handverkauf an einzelne Parteien nur in ganz beschränkter Menge abgegeben werden darf."

Milch als Indikator

Es kommt zu Engpässen im Verkehr: "Im Eisenbahnministerium laufen Meldungen über eine starke Zunahme der Erkrankungen der Eisenbahnbediensteten an Spanischer Grippe ein. Es ist daher mit Sicherheit darauf zu rechnen, daß in den nächsten Tagen bedeutende Verkehrseinschränkungen erfolgen müssen, bis der Verlauf der Krankheit wieder die erforderlichen Personalstände verfügbar macht."

Am 19. Oktober erscheinen ungewöhnliche Pandemie-Analysen: "Die Ausbreitung der Grippe läßt sich auch aus den Ansuchen um den Bezug von Milch bei der städtischen Beratungsstelle für Kranke während des Krieges ersehen. In normalen Zeiten sind bei dieser Stelle täglich 1090 Ansuchen durchschnittlich überreicht worden, diese Zahl steigerte sich seit der Ausbreitung der Grippe auf 2000 täglich. In den letzten Tagen ist diese Anzahl stationär geblieben, woraus man vielleicht schließen kann, daß die Grippe bereits den Höhepunkt erreicht hat. Trotz der großen Milchknappheit war es bisher noch möglich, jede an der Grippe Erkrankten die erforderliche Menge von Milch zuzuweisen."

Auch die Wissenschaft ist gefordert: "Alle bakteriologischen Laboratorien und Professuren wurden angewiesen, bakteriologische Untersuchungen bei Grippe vorzunehmen und bemerkenswerte Befunde dem k. und k. Kriegsministerium zu melden. Grippekranken ist bis zur vollständigen Genesung der Ausgang ganz zu untersagen."

Todeszahlen werden veröffentlicht wie am 26. Oktober 1918: "Da die Anzeigepflicht für die Erkrankung und die Todesfälle an Lungenentzündungen nicht durchgeführt wurde, kann als verläßlicher Maßstab für den Fortgang der Seuche nur die Statistik der Todesfälle benutzt werden. Diese ergibt: Es starben in der Woche vom 13. bis 19. d. M. insgesamt in Wien 2607 Personen, hierunter mit der Diagnose Lungenentzündung und Grippe 1468. Bisher sind vom 1. September bis 19. Oktober über 3125 Todesfälle von Grippe und Lungenentzündung verzeichnet."

Hilfen für Künstler

Kinos und Theater dürfen jetzt vorerst nicht aufsperren. "Es muß vielmehr gefordert werden, daß, diese Maßnahmen mit aller Strenge durchgeführt werden. Der Landessanitätrat befürwortet auf das wärmste, daß die Angehörigen der Theater und ähnlicher Betriebe für den wirtschaftlichen Entgang gegebenenfalls aus öffentlichen, Mitteln, schadlos gehalten werden."

Allerheiligen 1918 wird eingeschränkt: "Der Landessanitätsrat macht darauf aufmerksam, daß der Gräberbesuch zu Allerheiligen schon zu normalen Jahren wegen der enormen Verkehrssteigerung und der vermehrten Möglichkeit von Erkältungen zu einer Steigerung der entzündlichen Erkrankungen, der Lunge geführt hat. Bei dem nachweisbaren Einfluß, den diese Umstände auf den Verlauf und die Bösartigkeit der Grippeinfektion ausüben, halt der Landessanitätsrat die gänzliche Einstellung des Allerheiligenverkehres für unerläßlich und empfiehlt, daß die behördlichen Maßnahmen hierfür umgehend getroffen werden."

Die Spanische Grippe verschwindet mit 7. November 1918 recht plötzlich aus den Schlagzeilen: "Infolge Ausbreitung der Grippe war die Sperrung sämtlicher Schulen Wiens bis einschließlich 6. d. M. angeordnet worden. Da dieser Termin von den Schulbehörden nicht weiter erstreckt wurde, wird morgen, Donnerstag, der Unterricht wieder aufgenommen."

Behördlich ist die Spanische Grippe damit - vorerst - erledigt. Das Leid der Menschen in diesem harten ersten Zwischenkriegswinter bleibt. Wie das Virus, das im Frühling 1920 zu einer dritten Welle ansetzen wird.