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"Krankheit des Vergessens"

Von Franz M. Wuketits

Wissen
Der deutsche Psychiater Alois Alzheimer. Corbis

"Alzheimer" ist als pathologischer Begriff geläufig, als Krankheit sehr gefürchtet. Weniger bekannt ist der vor 100 Jahren verstorbene Alois Alzheimer, der die Symptome der Demenz entdeckt e.


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Am 25. November 1901 kam Auguste Deter aus Kassel in Begleitung ihres Ehemannes in die "Städtische Anstalt für Irre und Epileptische" in Frankfurt am Main, wo sie von dem Psychiater Alois Alzheimer untersucht wurde. Die Frau, damals erst einundfünfzig Jahre alt, hatte ihre Persönlichkeit innerhalb eines Jahres stark verändert, war eifersüchtig und aufdringlich geworden und vermochte selbst einfache Aufgaben nicht mehr zu erledigen. Alzheimer führte mit der Frau Gespräche, die er sorgfältig protokollierte. Er bat sie zum Beispiel, "Frau Auguste D." zu schreiben; sie schrieb nur "Frau", den Rest hatte sie sofort vergessen. Der Psychiater stellte an der Patientin eine räumliche und zeitliche Orientierungslosigkeit fest sowie auffällig starke Stimmungsschwankungen zwischen Misstrauen, Angst und Ablehnung.

In seiner Anstalt begegnete Alzheimer zwar vielen Patienten mit geistiger Verwirrung. Bemerkenswert an Auguste Deter war jedoch ihr vergleichsweise niedriges Alter. Außerdem war sie sich ihres Zustands offenbar bewusst. In einem der Gespräche mit ihrem Arzt äußerte sie: "Ich habe mich sozusagen selbst verloren." Alzheimer benannte die geistige Störung der Frau treffend als "Krankheit des Vergessens".

Als er das Gehirn der am 9. April 1906 Verstorbenen mikroskopisch untersuchte, bemerkte er ein geschrumpftes Hirngewebe und in der gesamten Hirnrinde Eiweißablagerungen ("Plaques"). Damit hatte er nicht nur eine Krankheit mit ihren typischen Symptomen entdeckt, sondern auch deren anatomische Grundlagen herausgefunden - was als Pionierleistung in der Geschichte der Psychiatrie und Neuropathologie gewürdigt werden muss. Erst mit Alzheimer begann überhaupt die systematische Erforschung von Demenz-Erkrankungen.

Ein Forscherleben

Alois Alzheimer kam am 14. Juni 1864 im unterfränkischen Marktbreit zur Welt, einem Städtchen mit heute knapp viertausend Einwohnern. Sein Vater war Notar. Er hatte die Schwester seiner ersten, 1862 verstorbenen Frau geheiratet. Die Familie war streng katholisch. Alois besuchte die Grundschule in Marktbreit und absolvierte das Kronberg-Gymnasium in Aschaffenburg. Schon der Schüler fiel mit seinem ausgeprägten Interesse für die Naturwissenschaften auf. Nach dem Abitur studierte Alzheimer Medizin an der Universität Würzburg, wo er 1888 sein Abschlussexamen mit der Bestnote bestand. In seiner kurzen Dissertation befasste er sich mit der Funktion der Ohrenschmalzdrüsen.

Nach seinem Studium galt Alzheimers Interesse zunehmend der Psychiatrie. Er bewarb sich erfolgreich als Assistenzarzt an der erwähnten "Irrenanstalt" in Frankfurt am Main, die von Heinrich Hoffmann - der neben seinem Arztberuf auch als Schriftsteller hervortrat und mit seinem "Struwwelpeter" bekannt wurde - gegründet worden war. Diese Anstalt war für damalige Verhältnisse in der Psychiatrie sehr fortschrittlich. Die Ärzte versuchten, wo auch immer es möglich war, Zwangsbehandlungen (etwa Zwangsjacken) zu vermeiden und erlaubten einigen Patienten Spaziergänge im Klinikpark. Außerdem wurde hier - was Alzheimers Interessen sehr entgegenkam - auch Forschung betrieben.

Das Jahr 1894 war nicht nur wissenschaftlich, sondern auch privat für Alzheimer von besonderer Bedeutung. Wilhelm H. Erb, Direktor der Medizinischen und Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg, begleitete seinen Patienten, den Bankier und Diamantenhändler Otto Geisenheimer, gerade auf einer Reise nach Afrika und bat Alzheimer, nach Algerien zu kommen, um seinen Patienten zu untersuchen. Der Geschäftsmann litt an "Gehirnerweichung", also an eben der später nach Alzheimer bezeichneten Krankheit, woran er auch bald starb. Alzheimer heiratete 1895 Cecilie, die Witwe des Verstorbenen, mit der er drei Kinder hatte. Da seine Frau sehr wohlhabend war, konnte Alzheimer sorglos seinen Forschungen nachgehen und sich manche Großzügigkeit erlauben. (Er bezahlte einige seiner Mitarbeiter aus eigener Tasche.) Das Familienglück dauerte allerdings nicht lang, da seine Frau bereits im Februar 1901 einer schweren Erkrankung erlag.

Ein Jahr später verließ Alzheimer Frankfurt und ging an die Universitätsklinik in Heidelberg, wo er wissenschaftlicher Assistent bei Emil Kraepelin wurde, einem bedeutenden Gelehrten, der unter anderem entscheidende Beiträge zur Klassifikation der Geisteskrankheiten leistete. Kraepelin wurde 1904 nach München berufen und nahm seinen Assistenten mit, der den "Fall Auguste Deter" auch nach seiner Frankfurter Zeit nie aus den Augen verlor. Als seine Patientin in völliger geistiger Umnachtung starb, ließ er deren Krankenakte und ihr Gehirn nach München kommen.

Die Fachwelt war zu der Zeit aber auf eine "neue" Krankheit anscheinend nicht vorbereitet. Denn als Alzheimer im November 1906 anlässlich der "Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte" in Tübingen seine noch frischen Erkenntnisse vorstellte, erntete er nur Schweigen. Der Vorsitzende der Sitzung bemerkte, es bestehe offenbar kein Diskussionsbedarf. Alzheimers weitere wissenschaftliche Laufbahn blieb von dieser Niederlage jedoch unberührt.

1912 wurde der Arzt und Forscher - auf Empfehlung seines Mentors Kraepelin - an die Universität Breslau berufen, wo er fortan als ordentlicher Professor und Direktor der "Königlich Psychiatrischen und Nervenklinik" wirkte. Allerdings nicht lang. Er litt bald an Atemnot und Herzbeschwerden, und 1915 kam es zu einer drastischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands mit zusätzlichem Versagen der Nierenfunktion. Er starb am 19. Dezember 1915 im Alter von nur knapp zweiundfünfzig Jahren. Seine sterblichen Überreste wurden auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt am Main beigesetzt, neben jenen seiner Frau.

Pionierleistungen

Alzheimer widmete sich seinen Patienten stets mit großer Umsicht und war bemüht, jede ihrer Regungen wahrzunehmen und genau zu protokollieren. Solange er Auguste Deter betreute, ging er praktisch täglich zu ihr auf Visite. Das entsprach freilich auch seinem Forscherdrang. Er war als Forscher unermüdlich, sezierte und mikroskopierte Gehirne auch in der Nacht. Unzufrieden mit den damals gängigen psychiatrischen Lehrbüchern, war er davon überzeugt, dass über die bereits verzeichneten Geisteskrankheiten hinaus noch viel mehr solcher Erkrankungen festgestellt und klassifiziert werden müssten. Der weitere Verlauf der Geschichte der Psychiatrie - die ihm Entscheidendes verdankt - sollte ihm Recht geben. Wohl hat Alzheimer nicht zuletzt auch zu einer Enttabuisierung und "sachlichen" Betrachtung von neurologischen und geistigen Erkrankungen beigetragen.

Alzheimer rauchte gern Zigarren, und seine Photographie zeigt einen rundlichen, gemütlich wirkenden Mann. Beides entspricht durchaus einem in der Öffentlichkeit bis heute verbreiteten Klischee des Psychiaters. Dass dieser mit den weniger gemütlichen, oft abgrundtiefen Schichten des menschlichen Daseins konfrontiert ist, steht auf einem anderen Blatt.

Der Name "Alzheimer" fehlt zwar in keinem der gängigen lexikalischen Werke, er bezieht sich dabei aber weniger auf die Person als auf die nach dieser benannten Krankheit, die etwa in der "Brockhaus Enzyklopädie" aus dem Jahr 1966 lapidar beschrieben wird als "eine zum Teil erbliche Gehirnkrankheit, bei der es schon vor dem Greisenalter zu allgemeinem Schwund der Gehirnrinde kommt; sie führt zur Verblödung". "Alzheimer" ist mittlerweile schon beinahe zu einem Schlagwort geworden, zu einem Alltagsbegriff jedenfalls mit sehr negativer Konnotation.

Alois Alzheimer sah in seiner Frankfurter Klinik manche orientierungslose, vergessliche und - mit Verlaub - insgesamt verblödete Patienten jenseits der siebzig. Wie seine Fachkollegen, nahm auch er diesen Umstand zunächst gleichsam als gegeben hin. Mit zunehmendem Alter lassen die kognitiven beziehungsweise mentalen Fähigkeiten eben nach, bei manchen Menschen in hohem, bei anderen wiederum in geringerem Ausmaß.

Alterskrankheit

Auguste Deter stellte dabei eine Ausnahme dar. Heute weiß man, dass die Alzheimer-Krankheit sich durchaus auch schon im sechsten Lebensjahrzehnt bemerkbar machen kann. Allerdings steigt die statistische Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, mit jedem weiteren Lebensjahrzehnt und erreicht bei Menschen in ihren Achtzigern dann einen recht hohen Grad. Bei Menschen, die über neunzig Jahre alt werden, ist eine Demenz-Erkrankung jedoch wiederum seltener. Das klingt paradox, findet aber eine plausible Erklärung: Menschen, die schon vor diesem Alter an Demenz leiden, erreichen ihren neunzigsten Geburtstag meistens kaum noch. Sie sterben an den Konsequenzen ihrer Krankheit, holen sich eine Lungenentzündung, fallen aus dem Fenster und dergleichen mehr.

Die Alzheimer-Krankheit ist nur eine der inzwischen klassifizierten Demenz-Formen, wenn auch die häufigste und bekannteste. Die Ursachen der Demenz-Erkrankungen sind recht vielfältig, aber den Krankheitsbildern gemeinsam ist ein körperlicher und/oder geistiger Verfall der jeweils Betroffenen. Zunehmende Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit in Raum und Zeit, mitunter auch eine signifikante Veränderung der Persönlichkeit sind jedenfalls alarmierende Symptome.

Die - zumindest in unseren Breitegraden - steigende durchschnittliche Lebenserwartung und damit die Zunahme von alten und sehr alten Menschen führen zu einem Anstieg der Zahl demenzkranker Personen. Allein in Deutschland leiden weit über eine Million Menschen an Demenz, mehr als die Hälfte davon an Alzheimer. Für die nächsten Jahrzehnte wird, bei gleichbleibender demographischer Tendenz, eine dramatische Steigerung erwartet. Die damit verbundenen persönlichen und gesellschaftlichen Probleme werden eine immer größere Herausforderung darstellen.

Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen: "Mord. Krieg. Terror. Sind wir zur Gewalt verurteilt", Hirzel Verlag 2015.