Experten schlagen pragmatische Rückkehr-Modelle vor.
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Tel Aviv. Umar Agbaria schaut aus seinem Büro auf die Skyline von Tel Aviv und sagt, was in dieser Stadt sonst kaum jemand zu sagen wagt: Die palästinensischen Flüchtlinge können aus dem Exil ins heutige Israel zurückkehren - können zurück in ihre alte Heimat, aus der sie vor rund 65 Jahren flüchten mussten. Sogar nach Tel Aviv, sagt Agbaria. "Und dafür müsste kein einziger jüdischer Israeli das Feld räumen."
Das in UNO-Resolution 194 festgehaltene Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge ins heutige Israel bleibt der Traum von Millionen Palästinensern im Exil, gleichzeitig jedoch das Reizwort für jeden israelischen Verhandlungsführer. Denn in Israel setzt man diese Forderung mit dem Ende eines Staates mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit gleich. Doch israelische und palästinensische Experten, die sich seit Jahren mit den Möglichkeiten einer realistischen Umsetzung der Flüchtlingsfrage auseinandersetzen, erzählen eine andere Geschichte. Mit kreativen Ansätzen versuchen sie den Gordischen Knoten zu lösen und beiden Seiten des Konflikts Illusionen und Ängste zu nehmen.
Rund 750.000 Palästinenser flüchteten im arabisch-jüdischen Krieg von 1948 aus Palästina oder wurden während der erfolgreichen Offensive jüdischer Milizen vertrieben. Viele Familien hatten dabei ihre Häuser und Besitztümer in dem Glauben zurückgelassen, bald wieder zurückzukehren. Doch schon bald wurden diese von den jüdischen Einwanderern übernommen. Bereits am 14. Mai 1948 wurde der israelische Staat ausgerufen. Er garantierte den Überlebenden des Holocaust und allen anderen Juden der Welt das Recht auf Staatsbürgerschaft, das jüdische "Rückkehrrecht" in das Land Israel. Den damals vertrieben palästinensischen Zivilisten bleibt dieses Privileg jedoch bis heute verwehrt. Für sie wurde der israelische Unabhängigkeitstag zur "Nakba" - zur "Katastrophe".
Nur etwa ein Fünftel der palästinensisch-arabischen Bevölkerungsmehrheit Palästinas blieb nach dem Krieg im heutigen Israel und wurde praktisch über Nacht zu einer nicht-jüdischen Minderheit im jüdischen Staat. Der kleinere Teil der 1948 Vertriebenen flüchtete nicht außer Landes, sondern in Nachbarsorte. Doch selbst sie fanden ihre Häuser oft schon nach wenigen Wochen von Fremden besetzt. Der frühe israelische Staat legalisierte die Konfiszierung palästinensischen Eigentums früh mithilfe britischer Kolonialgesetzgebung.
Leben auf Trümmern
Umar Agbarias Vorfahren hatten Glück und blieben innerhalb der heutigen Grenzen Israels. Deshalb ist er heute israelischer Staatsbürger. Doch auch für ihn kann ohne die Anerkennung der "Katastrophe" keine Aussöhnung zwischen Israel und Palästina möglich sein. Und das Rückkehrrecht sei der Schlüssel zu dieser Versöhnung. Deshalb arbeitet er seit gut fünf Jahren an einem Projekt der Nichtregierungsorganisation Zochrot, "Erinnern". Darin versuchen Raumplaner, Architekten und Flüchtlinge, gemeinsam einen realistischen Horizont für die Rückkehr der vertriebenen Palästinenser zu finden. Für Israelis ist das jedoch tabu.
Eines will Agbaria sofort klarstellen: Nur eine Minderheit der noch lebenden Flüchtlinge und ihrer Nachfahren würde tatsächlich ins heutige Israel zurückkehren wollen. Und: Dafür muss kein einziger Israeli vertrieben werden. Denn immerhin wolle er keine zweite Katastrophe, sondern eine Lösung finden. Für Agbaria beginnt die greifbare Geschichte nur wenige Kilometer von seinem Büro in Tel Aviv entfernt. Aus dem Fenster deutet er in Richtung Universität Tel Aviv, während er historische Landkarten am Tisch ausrollt. Dort wo heute die Universität steht, war früher - bevor die jüdischen Kriegsgewinner rund 500 arabische Dörfer zerstört haben - ein palästinensischer Ort namens Sheikh Munis. Das Stadtviertel heißt heute noch so, und das letzte noch erhaltene Gebäude wurde erst vor kurzen abgerissen. Nur, wie soll "Rückkehr" von Flüchtlingen hier überhaupt möglich sein, ohne dabei neues Leid zu schaffen?
"Symbolisch könnte den enteigneten Palästinensern das freie Studium angeboten werden. Und ein Ort zum Gedenken, der die Wahrheit in der Geschichte anerkennt", erklärt Agbaria. Die theoretische Ansiedlung der Rückkehrer würde im nächstmöglichen Ort stattfinden. Freie Flächen gäbe es genug. Dieses Szenario dürfe man sich nicht als eine Flutwelle vorstellen, sondern als sorgfältigen Plan. "Wenn wir uns mit Flüchtlingen treffen, und ihnen die Realität erklären, brechen wir damit oft ihre gefährlichen Illusionen." Gleichzeitig seien die Workshops, die Agbaria gemeinsam mit Flüchtlingen und Experten abhält, auch Heilungsprozess und Trauma-Bewältigung. "Plötzlich können sie die Vergangenheit aufarbeiten und in kreative Ideen für die Zukunft umwandeln. Rückkehr heißt nicht, komme und gehe zurück in dein altes Haus. Es heißt, wie bewältigen Palästinenser und Israel gemeinsam ihr Trauma."
Die Macht des Nein-Sagens
Als Obama zu Besuch in Israel war, hätten alle gehofft, dass er Frieden macht. "Gleichzeitig wissen wir aber, dass es keinen Frieden geben wird, ohne das Thema der palästinensischen Flüchtlinge zu lösen", sagte der israelische Anthropologe und Journalist Dan Rabinowitz jüngst in einem Vortrag in Murcia, Spanien. "Ich gehöre zu jenen, die denken, dass die meisten Flüchtlinge nicht rückkehren würden. Das wichtigste ist, die vielen Mythen durch einen konkreten Plan zu bekämpfen", so Rabinowitz. Was sich jüdische Israelis gerne als Apokalypse vorstellen, verherrlichen Palästinenser als eine Art Rückkehr ins Paradies. Beides ist falsch, meint er. "Realität und Version liegen in der Diskussion weit auseinander." Deshalb hat er einen neuen Plan ausgearbeitet. Darin macht er sich ein einfaches Prinzip zunutze: die Macht des Nein-Sagens.
Er rechnet vor, dass heute noch etwa 1,4 Millionen palästinensische Flüchtlinge in den ursprünglichen Lagern im Exil leben. Diese Camps seien jedoch vielerorts schon zu richtigen Stadtvierteln mutiert. Nur mehr etwa 200.000 dieser Flüchtlinge seien in Palästina geboren. Den Rest machen die Nachkommen aus. Rabinowitz würde eben diesen 200.000 in Palästina geborenen Flüchtlingen unmittelbar das Recht auf Rückkehr zugestehen, mit der Möglichkeit, ihr "Ticket" abzulehnen und an Verwandte zu übertragen. "Studien zeigen, dass ältere Flüchtlinge am wenigsten den Wunsch haben, in ihre alte Heimat zurückzukehren", sagt der Anthropologe. Für sie wäre die Zuerkennung des Rechts bereits eine Aussöhnung.
Und durch das Nein-Sagen und die Übertragung an Familienmitglieder reduziere sich die Zahl der möglichen Rückkehrer erheblich, was es für Israel akzeptabler mache. Wichtig sei hierbei, dass zum ersten Mal in der Geschichte den Flüchtlingen selbst die Entscheidung zugestanden wird, und nicht den Eliten.
Der zweite zentrale Punkt seiner These ist die Trennung von Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht. Vielen Flüchtlingen könnte eine gewisse Gedenkzeit zugestanden werden, ob sie die Rückkehr als Staatsbürgerschaft annehmen. Verstreicht die Zeit, blieben ihnen ein Aufenthaltsrecht und mögliche wirtschaftliche Anreize, die auch die israelische Wirtschaft ankurbeln könnten. "Symbolische und pragmatische Elemente müssen kombiniert werden", sagt Rabinowitz. Am 15. Mai werden Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten wieder mit Protesten der Nakba gedenken. Etwa zur gleichen Zeit wird in Israel der Unabhängigkeitstag gefeiert. Diese völlig unterschiedlichen Versionen der Geschichte werden vermutlich nie ganz versöhnlich sein. Doch Rabinowitz glaubt, dass der Spagat zwischen Geschichte und Zukunft möglich ist.