Joachim Widder, Leiter des Comprehensive Cancer Center, über Forschungsfortschritte und die Notwendigkeit, dranzubleiben.
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Covid-19 stellt derzeit nicht nur Krebs in den Schatten. Weitere Aufmerksamkeit ist jedoch nötig. Tumorerkrankungen sind viel zu komplex und verschieden, als dass sie mit einem Paukenschlag aus dem Weg geräumt werden könnten, daher muss weiter geforscht werden - für schnellere Ergebnisse auch investiert. Die "Wiener Zeitung" hat anlässlich des Weltkrebstages Joachim Widder, Leiter der Universitätsklinik für Radioonkologie und des Comprehensive Cancer Center, im Interview nicht nur über den Stand der Forschung befragt.
"Wiener Zeitung": Am 4. Februar ist Weltkrebstag. So wie viele andere Themen läuft aber auch Krebs seit langem - zumindest in der Öffentlichkeit - unter dem Radar. Könnte der Tag ein Erwachen aus dem Dornröschenschlaf sein?
Joachim Widder: Es ist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur ein Dornröschenschlaf von Krebs, sondern auch von vielen anderen Krankheiten - bis auf eine. Doch das entspricht nicht der Wirklichkeit. Die Behandlungen von Krebskranken haben trotz Pandemie nicht abgenommen. Das lässt sich an Vergleichszahlen in unserem Haus (AKH Wien) sehen. In der Frühdiagnostik gab es jedoch Einschnitte, auch manche Operationen haben verspätet stattgefunden - das ist nicht günstig.
Corona hat gezeigt, wie öffentlichkeitswirksam Informationen über Forschungsfortschritte weitergetragen werden können. Aber macht es überhaupt Sinn, so zu arbeiten, dass einem die ganze Welt auf die Finger schaut? Wäre das bei Krebs überhaupt denkbar?
Denkbar schon, jedoch gibt es im Vergleich zu einer Pandemie einen großen Unterschied. Die Pandemie hat unmittelbar für alle Lebensbereiche Folgen - auch für nicht Betroffene. Von Krebs sind zwar viele in jedem Lebensalter, aber nicht alle betroffen. Zweiter wesentlicher Unterschied ist, dass der Krebs ein Konglomerat von Krankheiten ganz unterschiedlicher Art und Weise ist. Auch gibt es fast keine Körpergegend, die nicht davon betroffen werden kann, Krankheitsverläufe sind extrem verschieden.
In die Entwicklung einer Covid-19-Impfung wurde viel Geld investiert. Könnte eine Finanzspritze auch die Krebsforschung stärker vorantreiben? Oder gibt es abseits Faktoren, die eine schnellere Weiterentwicklung gar nicht ermöglichen können?
Es braucht sicher Zeit. Würde ein einziges Virus alle Krebserkrankungen auslösen, wäre das Problem längst gelöst. Wir sehen das etwa beim Zervixkarzinom: Wenn alle Kinder geimpft sein werden, wird es diese Krankheit kaum noch geben. In den letzten Jahren wurde viel Geld in die Krebsforschung und die Entwicklung von Behandlungen investiert, mit entsprechendem Fortschritt. Mehr Investition würde die Fortschritte, die stattfinden, zweifellos weiter beschleunigen.
Heute haben mehr Menschen Krebs, aber weniger sterben unmittelbar daran. Warum?
Vor allem weil die Menschen heute älter werden und Krebs im Mittel gesehen eine Erkrankung ist, die mit höherem Lebensalter zunimmt. Alterskorrigiert gibt es nur bei vereinzelten Krebserkrankungen eine Zunahme, aber nicht generell. Zudem sind die Behandlungsmethoden heute effektiver. Das hat zur Folge, dass man mit Krebs mit immer weniger Symptomen immer länger leben kann - auch wenn die Krankheit nicht ganz verschwindet. Und doch ist es häufig leider der Fall, dass ein Patient an den Folgen der Erkrankung stirbt, aber eben später.
Welche wesentlichen Fortschritte konnten im Feld der Onkologie schon umgesetzt werden?
In beiden Bereichen der Krebstherapie ist es in den letzten Jahrzehnten zu großen Fortschritten gekommen - sowohl in der lokalen (Chirurgie und Radiotherapie) als auch in der systemischen Behandlung (Krebsmedikamente). Die Chirurgie entfernt immer mehr Tumoren minimalinvasiv, bildgestützt oder sogar mit Hilfe von Robotern. Das führt dazu, dass man mit gleicher Radikalität ein viel geringeres Trauma verursacht. Auch lassen sich etwa Lymphknoten sehr gezielt untersuchen und testen, ob sie operiert werden müssen. Vor allem beim Brustkrebs lässt sich damit nach Operationen eine verbesserte Lebensqualität erreichen. Die Strahlentherapie hat mit der Bildgebung einen Aufschwung genommen. Man kann präziser bestrahlen und gesundes Gewebe schonen. Dies wäre ohne Weiterentwicklung der Geräte und Zunahme der Computerpower nicht denkbar. In der systemischen Behandlung konnten vor allem mit der Immuntherapie große Erfolge erzielt werden. Mit der Entdeckung, dass sich durch einen gezielten Eingriff in das Immunsystem Mechanismen des Tumorwachstums durchbrechen lassen, konnten viele neue Medikamente hervorgebracht werden, die das Immunsystem gegen den Tumor in Aktion treten lassen. Zudem wurden in der Molekularbiologie viele sogenannte Pathways entdeckt, wodurch mit spezifischen Blockern gegen das Krebswachstum vorgegangen werden kann.
Ihr Fachgebiet ist die Radioonkologie. Welchen Stellenwert nimmt sie in der Onkologie ein?
Sie ist neben Chirurgie und Medikamenten eine der drei klassischen Säulen. Die Strahlentherapie ist bald 130 Jahre alt und wird auch fast schon so lange gegen Krebs eingesetzt. Prinzipiell kann man jeden Tumor mit Strahlen vernichten. Gleichzeitig ist es aber eine sehr toxische Behandlungsform, wodurch ihr empfindliche Grenzen gesetzt werden. Dieses therapeutische Fenster konnte in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich weiter geöffnet werden. Das hat dazu geführt, dass heute sehr gezielt mit sehr hohen Dosen behandelt werden kann. In vielen Gebieten übersetzt sich die Zunahme der Präzision in direkte klinische Vorteile.
Ist Krebs heilbar?
Ja. Etwa die Hälfte aller Menschen mit Tumorerkrankungen kann geheilt werden. Voraussetzung ist meist Frühdiagnose und völlige Entfernung des Tumors durch Operation oder Bestrahlung. Oft kann Heilung auch durch Medikamente unterstützt werden. Mit Medikamenten allein ist Heilung leider derzeit nur bei Blutkrebs - manchen Leukämien und Lymphomen - erreichbar.
Wie hat sich die Strahlentherapie in den letzten Jahren verändert?
Die Methoden der Bildgebung wie Computertomographie, Magnetresonanztomographie oder der PET-Scan, haben sich wesentlich verbessert und sind präziser geworden. Das bringt Vorteile in der Diagnostik. Zudem haben sich die Therapieplanungsalgorithmen sowie das "on-board imaging" während der Therapie selbst wesentlich verbessert. Will man mitten im Körper ein winziges Areal mit hoher Dosis bestrahlen, muss man den ganzen Körper modellieren und die Einwirkung der Strahlen so optimieren, dass so wenig wie möglich empfindliche Regionen getroffen werden. Durch die verbesserte Rechenleistung und optimierte Therapieplanungssysteme ist es auch gelungen, die Intensität der Strahlung zu modulieren, um sie an die Form der Tumorausdehnung anzupassen.
Welche Vorteile bringt ein multidisziplinärer Ansatz?
Sowohl die Krebsforschung als auch die Behandlung ist ein extrem multidisziplinäres Unternehmen. Der Patient sieht immer nur ein paar Gesichter - quasi die Spitze des Eisbergs. Im Hintergrund beteiligt sind allerdings sehr viele Spezialisten - auch Biologen, Chemiker, Physiker, Mathematiker, Datenwissenschafter und viele mehr. Nur wenn alle zusammenarbeiten, kommen gute Ergebnisse heraus. Dann lassen sich auch Ergebnisse der Forschung so gut wie möglich in die Praxis übersetzen. Man spricht von translationaler Onkologie.
Was würden Sie sich für die Onkologie wünschen?
Ich wünsche mir eine weitere Optimierung der therapeutischen Möglichkeiten in Richtung maßgeschneiderte Therapie und Präzisionsmedizin. Dass man die Tumorbiologie noch besser versteht und dies auch umsetzen kann. Auch um zu vermeiden, dass ein Patient zu viel oder zu wenig Behandlung bekommt. Kann man im Vorfeld feststellen, dass eine Therapie nicht wirken wird, kann man einem Menschen nicht nur unnötige Behandlungen, sondern auch Nebenwirkungen ersparen. Zudem wünsche ich mir, dass man mehr Medikamente und Therapieformen - z.B. Radiotherapiekonzepte - entdeckt und erprobt, mit denen man gezielt behandeln kann. Die Hoffnung besteht auch darin, noch mehr Impfungen gegen Krebs zu finden. Optimal wäre es natürlich, wenn man Kinder wie gegen Masern impft und diese ihr ganzes Leben lang nicht nur vor Gebärmutterhalskrebs, sondern auch vor noch anderen Krebsarten geschützt sind. Weiterentwickeln muss sich auch der Einsatz von Algorithmen. Die künftige Medizin wird viel mehr Mathematik brauchen. Damit lassen sich Therapien noch besser an den Einzelnen anpassen. Leider wird uns Krebs weiter begleiten. In kleinen Schritten werden Behandlungen stetig weiter verbessert. Mit höheren Investitionen kann das schneller gehen.
Das heißt, der öffentlich gefühlte Dornröschenschlaf wird auch wieder enden.
In kürzester Zeit wird Krebs wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen, weil Krebskrankheiten Covid leider überdauern werden. Es wird stetig weitere Verbesserungen geben, kleinere oder größere Schritte bei einzelnen Krebserkrankungen, die auch in der Öffentlichkeit nicht immer wahrgenommen werden. Doch die, die es trifft, werden es merken.