Auch die Größten erliegen mitunter der Versuchung, in die Zukunft blicken zu wollen. Ach, wären sie doch Philosophen geblieben.
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"Der Mangel an politischen Begabungen in den Achtzigerjahren ist augenfällig. (...) Im Kreis der Leute, die um die Großen herum sind, stehen nicht gleich wieder Große zur Verfügung. (.. .) Ich schätze, dass in Österreich beim zweiten oder dritten Wechsel sehr gute Leute kommen werden." Also orakelte der Alte von Mallorca aus im Buch "Im Strom der Politik", dem zweiten Teil seiner Memoiren von 1988.
Unschwer zu erraten, dass sich Bruno Kreisky selbst zu den Großen zählte - und dass er, der längst Schwerkranke, mit seinen Nachfolgern an der Spitze der SPÖ höchst unzufrieden war. Dafür prophezeite er "für das letzte Jahrzehnt" des vorigen Jahrhunderts eine "Regeneration der Politik - vorausgesetzt, dass dieser rollende Planet weiter existieren wird".
Nun, immerhin Kreiskys letztere Erwartung ist eingetreten, auf die Erfüllung seiner Prophezeiung von einer Wiederauferstehung der Politik wartet die Republik bis heute.
Wobei durchaus auch Zweifel an den seherischen Fähigkeiten des vielfach verklärten "Sonnenkönigs" angebracht sind. Ronald Reagan erschien ihm als die Karikatur eines Politikers, dafür setzte er große Hoffnungen in Michail Gorbatschow als Reformer der Sowjetunion. Immerhin hat noch jede abtretende Generation Gegenwart und Zukunft schwarzgemalt.
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Der medizinische Fachausdruck dafür lautet dissoziative Identitätsstörung oder multiple Persönlichkeitsstörung. Diese macht sich dadurch bemerkbar, dass die Patienten zahlreiche unterschiedliche Persönlichkeiten bilden, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen. Das bemerkenswert Tragische daran ist, dass sich die Betroffenen an das Handeln der jeweils anderen Personen nicht oder nur schemenhaft erinnern können beziehungsweise erleben sie es als das Handeln einer fremden Person.
Diese Beschreibung erinnert fatal - obwohl man ja über Kranke keine Witze machen sollte - an den Bewusstseinszustand österreichischer Nationalratsabgeordneten in Regierungsverantwortung. Die haben offensichtlich auch mehrere politische Identitäten, die sie strikt trennen.
Die Folgen können nur als bizarr bezeichnet werden. Da beschließen rote und schwarze Mandatare - reichlich spät, aber immerhin - die notwendigen Budgetgesetze, auf dass kurz darauf zahlreiche Institutionen, die engstens mit SPÖ und ÖVP verbunden sind, gegen eben diese Budgetgesetze vor dem Verfassungsgericht klagen.
Als die schwarze Beamtengewerkschaft diesen Schritt ankündigte, war der Wirbel groß. Kein Wunder, ist doch deren Vorsitzender zugleich auch Zweiter Präsident des Nationalrats. Da kann man durchaus über die politische Vereinbarkeit beider Positionen laut nachdenken.
Interessanterweise blieb ein vergleichbarer Aufschrei aus, als die rote Arbeiterkammer dieser Tage erklärte, eine Klage gegen das Budget anzustreben. Und AK-Funktionäre, die dem Budget ebenfalls zugestimmt haben, sind in den Reihen des Nationalrats ebenfalls keine Seltenheit. Das gilt natürlich genauso für die p.t. Seniorenvertreter in den Reihen von SPÖ und ÖVP, hat sich doch auch der Seniorenrat zur Budgetklage entschlossen.
Ohne die eingangs erwähnte schwerwiegende politische Persönlichkeitsspaltung der rot-schwarzen Abgeordnetenschar würde die Koalition nicht einmal mehr über eine parlamentarische Mehrheit verfügen.
Zumindest in dieser Hinsicht war es früher um die Authentizität von Politik besser bestellt.
Siehe auch:Das Budget unter Beschuss