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Kreml könnte Lukaschenko fallen lassen

Von Gerhard Lechner

Politik

Das Schicksal des weißrussischen Präsidenten hängt mehr und mehr von der Gnade Russlands ab. Doch in Moskau geht man zunehmend auf Distanz zum Autokraten in Minsk - und plant angeblich einen kontrollierten Machttransfer.


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Neben enormem Mut verfügen die Demonstranten in Belarus über mindestens eine weitere Eigenschaft im Übermaß: Durchhaltevermögen. Fast vier Monate dauern die Proteste gegen Langzeit-Präsident Alexander Lukaschenko in Minsk und anderen Städten nun schon an, und immer wieder gelingt es den Regimegegnern auf oft kreative Weise, der Repression des Polizeistaates zu trotzen. Die Anführer der Opposition sind eingekerkert oder im Exil, die wochen- und monatelangen Proteste haben bis jetzt keine zählbaren Erfolge gebracht, oft ist mit der Teilnahme an den Demonstrationen auch der eigene Arbeitsplatz in Gefahr - dennoch hat die Bereitschaft zum Protest in dem osteuropäischen Land kaum nachgelassen. Die Wut über die gewaltsame Unterdrückung durch das Regime, die in ruhigeren Zeiten besser kaschiert werden konnte, ist bei vielen Weißrussen größer als die Angst vor der Gewalt des nicht gerade zimperlichen Machtapparates.

 

Lukaschenko-Müdigkeit in Moskau

Für Lukaschenko, der offenbar auf den Faktor Zeit setzt, sind das schlechte Nachrichten. Denn die beispiellose Ausdauer seiner Gegner zwingt ihn nicht nur zu ständiger Wachsamkeit nach innen. Sie löst zunehmend auch in Moskau Unruhe aus - ungeachtet dessen, dass der Kreml den weißrussischen Staatschef, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert im Amt ist, während der aktuellen Proteste unterstützt hat.

Denn das Verhältnis von Russlands Präsident Wladimir Putin zu Lukaschenko ist nicht so gut, wie es vielleicht den Anschein hat. Schon lange hat sich in Moskau eine Art Lukaschenko-Müdigkeit breitgemacht. In den letzten Jahren sind die Konflikte zwischen den engen Partnerstaaten kontinuierlich gewachsen. Noch in diesem Sommer, kurz vor der Präsidentenwahl, beschuldigte Lukaschenko Russland, sich zu seinen Ungunsten in den Wahlvorgang einzumischen. Der Kreml habe den populären Oppositionskandidaten Wiktor Babariko unterstützt, den Lukaschenko vor der Wahl unter fadenscheinigen Vorwürfen inhaftieren ließ. Er sitzt bis heute in einem Gefängnis des Sicherheitsdienstes KGB. Diese Beschuldigungen trugen mit dazu bei, dass sich noch im August viele Anti-Lukaschenko-Demonstranten in Belarus von Russland ein Eingreifen an ihrer Seite erhofften.

Kreml will keine Revolution

Als spätestens im September offenbar wurde, dass sich Moskau dazu entschlossen hatte, lieber den Autokraten zu stützen als eine gelungene demokratische Revolution in Kauf zu nehmen, die eventuell auch auf Russland selbst ausgestrahlt hätte, war bei den Regimegegnern in Belarus der Frust groß. Das Ansehen des "großen Bruderstaates" sank in Umfragen ebenso wie die Zustimmung zu weiteren Integrationsschritten mit Moskau. Ohnehin orientiert sich die Jugend des Landes eher an westlichen Vorbildern wie Polen oder den baltischen Staaten als am kriselnden Riesenreich. Früher oder später, befürchtet man in Moskau, könnte das zu einem Wechsel des Landes ins westliche Lager führen, zu einer geopolitischen Revolution - was für Russland, für das Belarus militärstrategisch ein enorm wichtiger Staat ist, eine Katastrophe wäre, die es keinesfalls hinnehmen könnte. Indem es Lukaschenko nicht mehr gelingt, die Lage in Minsk zu kontrollieren, wird er aus russischer Sicht selbst zum destabilisierenden Unsicherheitsfaktor - auch für die eigenen geopolitischen Interessen.

Lukaschenko hält sich bedeckt

Auch deshalb sind Beobachter in Belarus der Ansicht, dass der jüngste Besuch von Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Minsk dazu gedient hat, Druck auf Lukaschenko auszuüben. "Es sieht so aus, dass Russland Lukaschenko dazu bringen will, die Macht in Minsk kontrolliert und Schritt für Schritt abzugeben", sagte der Minsker Politik-Analyst Artjom Schraibman der "Wiener Zeitung". Nach Möglichkeit wolle man in diesem Prozess auch die Bedingungen dieses Machttransfers diktieren.

Ob Lukaschenko dabei mitspielt, ist allerdings fraglich. Zwar hat er vor kurzem seinen Abschied in Aussicht gestellt - für die Zeit nach der Annahme von Verfassungsreformen, auf die auch Russland drängt. Er hat freilich keinen Zeitpunkt genannt. Und an Verfassungsreformen wird in Minsk schon seit Jahren gearbeitet - ohne konkretes Ergebnis. Das nährt den Verdacht, dem Präsidenten ginge es nur darum, Zeit zu gewinnen.

Schnell noch Fakten schaffen

"Lukaschenko ist dafür bekannt, dass er seine Ankündigungen nicht immer umsetzt", sagt auch Schraibman. Er betont aber gleichzeitig, dass es für den bauernschlauen 66-jährigen Ex-Kolchosdirektor diesmal schwerer wird als früher, seine Gegner zu überlisten - weil der Druck seitens der Gesellschaft hoch ist und auch Russland, von dem Lukaschenko mittlerweile abhängig ist, auf einen Wandel in Minsk drängt.

Dem Kreml wird es dabei auch darum gehen, den eigenen Einfluss in Minsk abzusichern, ohne die belarussische Gesellschaft zu einer Gegenreaktion zu provozieren, wie es beispielsweise in der Ukraine der Fall war. Auch ein Belarus nach Lukaschenko soll geopolitisch weiterhin ein enger Partner Moskaus bleiben. Es ist gut möglich, dass man Lukaschenko noch vor einem Machtwechsel in Minsk zu großen Zugeständnissen drängt, was die weitere Integration Weißrusslands in einen Unionsstaat mit Russland anbelangt.

Dagegen gibt es zwar auch Widerstand in der Gesellschaft. Der Schritt hätte allerdings einen großen Vorteil für Russland: Er würde Fakten schaffen - auch für Nachfolger im Präsidentenamt.