Putin und westliche Experten schätzten die Lage zu Beginn völlig falsch ein.
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Enorm sind die Verluste an Menschenleben und die Zerstörungen, die sechs Monate russischer Angriffskrieg in der Ukraine angerichtet haben. Kiew spricht von 9.000 ukrainischen Soldaten, die bisher ihr Leben verloren hätten. Die Zahl der Verletzten dürfte dreimal so hoch sein. Immer wieder sind laut ukrainischen Angaben Zivilisten unter den Opfern, auch Frauen und Kinder.
Der Blutzoll auf russischer Seite ist noch höher. Moskau hat seit Beginn des Feldzuges schlecht vorbereitete und demotivierte junge Männer in großer Zahl in den Tod geschickt. Das Pentagon in Washington schätzt, dass auf russischer Seite 70.000 bis 80.000 Menschen getötet oder verletzt worden sind. Die Zahl sei auch deshalb so hoch, weil die ukrainischen Streitkräfte gut funktionierten und weil die Ukraine massive militärische Hilfe aus dem Westen bekommen habe, heißt es hier. Die Zahlen sind nicht unabhängig überprüfbar.
Tatsache ist, dass durch den Krieg Infrastruktur - Spitäler, Schulen, Wohnhäuser, Straßen - in enormem Ausmaß zerstört wurden. Schon im April sprach die ukrainische Seite von Schäden in Höhe von einer Billion US-Dollar. Der Wiederaufbau, so er denn überhaupt beginnen kann, wird viele Jahre in Anspruch nehmen.
Eine Zeitenwende
Der 24. Februar 2022, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, stellt eine Zeitenwende dar. Binnen weniger Stunden änderte sich das sicherheitspolitische Gefüge in Europa komplett. Die Nato aktivierte noch am selben Tag Verteidigungspläne für Osteuropa; der Westen und Russland stehen einander mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wieder als Feinde gegenüber. Überall wird massiv aufgerüstet, der Westen schickt der Ukraine Panzer, Raketenwerfer, schwere Artillerie.
Wobei sich noch in den Tagen vor dem 24. Februar zahlreiche Militärexperten und Russland-Kenner nicht vorstellen konnten, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine wirklich auf breiter Front angreifen würde. Der Mann im Kreml wurde als kühl kalkulierender Machtpolitiker gesehen, der das Für und Wider abwägen kann. Der Feldzug brächte Russland nur Nachteile, Putin sei sich dessen bewusst, hieß es auch dann noch, als die russischen Panzerkolonnen bereits auf Kiew zurollten.
Die zweite Fehleinschätzung westlicher Militärexperten, Wissenschafter und auch Journalisten bestand darin, die militärische Stärke der Ukraine, das taktische Geschick und den Widerstandswillen massiv zu unterschätzen. Die ukrainische Niederlage wäre eine Sache von Wochen, hieß es.
Groß war dann die Überraschung, als der russische Angriff von Norden vor Kiew blutig abgewiesen wurde und die Armeeführung in Moskau ihre Truppen schließlich in den Osten verlegte. Hier und im Süden konnte Russland einige Gebietsgewinne erzielen. Die Eroberung Mariupols - vor allem die erbitterten Kämpfe um das Asow-Stahlwerk -, die mit der Kapitulation der ukrainischen Verteidiger endete, wurde von Russland als großer Sieg, von der Ukraine als tragische Heldengeschichte gefeiert. Kiew hat die Kontrolle über das Gebiet Luhansk verloren, 60 Prozent der Region Donezk sind in russischer Hand.
Putin hat sich seine "Spezialoperation" jedenfalls völlig anders vorgestellt. Der russische Präsident war davon ausgegangen, dass eine vorgeblich korrupte Führung in Kiew, ein morsches System nach wenigen Schlägen in sich zusammenfallen würde. Hier hat er sich gründlich getäuscht.
Der Frontverlauf ist seit Monaten praktisch unverändert, die russischen Truppen kommen, wenn überhaupt, nur im Kriechgang voran. Immer öfter gelingt es der Ukraine, militärisch die Initiative zu ergreifen und dem Gegner mit punktuellen Schlägen die eigene Verwundbarkeit vor Augen zu führen. Luftangriffe und Sabotageakte auf der Krim rufen auch der russischen Zivilbevölkerung schmerzhaft ins Bewusstsein, dass man in einen blutigen Krieg mit einem Nachbarn verwickelt ist, der nicht bereit ist, klein beizugeben.
Ganz im Gegenteil: Die vom Westen mit Milliarden Euro und schweren Waffen unterstützte Führung in Kiew stellt der Bevölkerung die komplette Vertreibung der russischen Angreifer in Aussicht. "Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeninsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwinden", erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj. "Es wird die Zeit kommen, wo sie aus dem Gebiet Charkiw verschwinden, aus dem Donbass, von der Krim . . ."
Wenig Enthusiasmus
Der Kreml beharrt dagegen auf seiner Version, dass die Spezialoperation in der Ukraine nach Plan laufe, alle Ziele in vollem Umfang erreicht worden wären. Was genau diese Ziele sein sollen ist aber auch vielen Russen nicht mehr klar. Die meisten wissen, dass nichts läuft, wie es laufen sollte. In den Städten und Gemeinden werden Freiwillige für den Kampf in der Ukraine angeworben, ohne dass die massiven Verluste wettgemacht werden könnten. Die Rekrutierer durchkämmen russische Gefängnisse und Straflager auf der Suche nach neuen Soldaten. Doch nur wenige wollen sich an der Front verheizen lassen im Kampf gegen einen Feind, der keine Gnade kennt.
Fatal aus Sicht Moskaus ist, dass man die Nato eigentlich zurückdrängen wollte - die jetzt aber im Vormarsch ist. Finnland und Schweden wollen einen russischen Angriff verhindern und treten der westlichen Militärallianz bei. Wieder eine Niederlage für Putin, mit der er nicht gerechnet hat.