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Krieg, der zu mehr Frieden führt

Von Thomas Seifert

Politik

Stanford-Historiker Ian Morris sieht eine friedlichere Zukunft für die Menschheit.


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Wer in einer anarchischen Welt gar keine Gewalt anwendet, wird vertrieben, meint Ian Morris.
© reu

"Wiener Zeitung": In Ihrem jüngsten Buch "Krieg. Wozu er gut ist" schreiben Sie, dass die Gewalt auf unserem Planeten im Lauf der Zeit zurückgegangen ist. Doch allein das 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen war doch extrem blutig ...Ian Morris: All die Kriege im Laufe der Menschheitsgeschichte hatten den unerwarteten Nebeneffekt, die Rate jener Menschen, die durch Gewalteinwirkung ums Leben kamen, sinken zu lassen. Das klingt paradox: Aber der Krieg hat uns sicherer und reicher gemacht. Während in prähistorischen Zeiten noch 10 bis 20 Prozent der Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sind, lag die Gewalt-Todesrate im 20. Jahrhundert trotz Gaskrieg, Nuklearwaffeneinsatz, Shoa und Genozid bei nur mehr 0,7 Prozent.

Derzeit wird in Syrien gekämpft, im Kongo. Wir leben ja nicht gerade in einer friedlichen Welt.

In Syrien gibt es mittlerweile mehr als 100.000 Tote und niemand weiß, wann das Töten dort ein Ende nimmt. Aber die Bevölkerung auf diesem Planeten ist auf jetzt sieben Milliarden Menschen angewachsen. Anthropologen berichten von Jäger- und Sammlergesellschaften, die in Gruppen von 20, 30 Menschen zusammenlebten, von denen in den vergangenen Generationen drei oder vier Menschen eines gewaltvollen Todes gestorben sind. Was bedeutet, dass jedes Jahr zehn Prozent dieser Menschen in einer kriegerischen Konflikt gestorben sind oder ermordet wurden. Das Äquivalent für den gesamten Planeten würde bedeuten, dass 700 Millionen Menschen eines gewaltvollen Todes sterben. Eine enorme Zahl.

Aber die Menschheit hat offenbar eine flache Lernkurve. Hat es denn bei all den Kriegen keine diplomatische Lösung gegeben?

Wir müssen uns die Frage stellen, wie eine andere Spezies Gewalt einsetzt. Vor 400 Millionen Jahren entwickelten sich die ersten Tierarten, die Gewalt einsetzten. Primitive Haiarten waren die Ersten, die Zähne ausbildeten und somit beißen konnten. Frühe Fischarten haben ihre Nahrung durch Essen von Plankton bekommen. Nun kann also dieser mit Zähnen bewaffnete Ur-Hai diese planktonfressenden Fische fressen. So kam die Gewalt in die Welt. Und sobald Gewalt eine Option ist, gibt es das Potenzial, dass sie auch angewendet wird. Wie haben etwa die Römer ihr Imperium geschaffen? Haben sie sich mit den Kelten und Galliern
zusammengesetzt und darüber diskutiert, wie die lokale Regierungsstruktur sein wird oder wie Steuern eingehoben werden? Wenn manche partout nicht ins Römische Reich eingegliedert werden wollten, dann endete das üblicherweise in Gewalt. Aber diese Imperien waren dann im Inneren befriedet, es gab Hierarchien, eine Ordnungsmacht sorgte für Sicherheit. Und da ist es wieder, dieses seltsame Paradox, dass Krieg Sicherheit schafft.

Werden denn Kriege nie aufhören?

Ich bin optimistisch, dass es eines Tages eine Menschheitsepoche ohne Krieg geben wird. Schließlich haben wir als Menschen immer gesagt: "Nie wieder Krieg, Krieg ist verrückt." Ich muss kurz ausholen: In der Steinzeit gab es sehr wenig zentralisierte Autorität. Wenn man in so einem rechtlosen Zustand Gewalt anwandte, machte das vielleicht für den Einzelnen Sinn. Wenn es aber eine Ordnungsmacht gibt, dann sind rasch die Legionen des Imperiums hinter den Unruhestiftern her. Für den Einzelnen macht die Gewaltanwendung plötzlich sehr wenig Sinn.

Sie haben aber auch eine biologistische Erklärung parat.

Wenn man allzu gewalttätig ist, kann man seine Gene wohl nicht an die nächste Generation weitergeben, weil das Risiko sehr hoch ist, dass man im Kampf umkommt. Wenn man aber in einer anarchischen Welt überhaupt keine Gewalt anwendet, dann wird man von gewaltbereiteren Mitmenschen sehr schnell aus seinem Revier vertrieben.

Zurück zu Ihrem Optimismus...

Ich stelle mir kurz vor, wir hätten diese Konversation vor 50 Jahren geführt und ich hätte Ihnen gesagt: Diese Russen werden eines Tages aufwachen und sagen: "Diese ganze Kommunismus-Sache funktioniert nicht so recht. Lasst uns doch die Berliner Mauer und den Eisernen Vorhang niederreißen." Und ich hätte weiter gesagt, dass es zum Umbruch kommt, ohne dass ein Atomkrieg ausbricht oder es zu ausgedehnten bewaffneten Konflikten in Europa kommt. Bei Aufständen in Rumänien oder im Baltikum werden Menschen getötet, aber es kommt nicht zum großen Krieg. Da hätten Sie 1963, ein Jahr nach der Kuba-Krise, wohl gesagt: "Also, das glaube ich Ihnen nicht." Sie hätten dann damals, 1963, gesagt: "Sie sind verrückt, die Berliner Mauer ist ja schließlich erst vor zwei Jahren gebaut worden!"

Welchen Schluss ziehen Sie aus diesem historischen Umbruch von 1989, der tatsächlich sehr friedlich über die Bühne gegangen ist?

Die Menschen haben eingesehen: Wir können uns keinen Atomkrieg leisten. Sie sahen: Wir müssen diese Phase des Kalten Krieges, des Ringens der Supermächte UdSSR und USA, überstehen, ohne die Erde in die Luft zu jagen. Das haben wir geschafft.

Wir brauchen als keinen neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China zu fürchten?

Das wäre vielleicht zu optimistisch. Die Geschichte hält nämlich eine Warnung für uns bereit: Wenn wir heute 100 Jahre auf das Jahr 1913 zurückblicken, stellen wir fest, dass die Handelsbeziehungen zwischen den europäischen Mächten sehr eng waren. Deutschland, Frankreich, Russland, Großbritannien und Österreich-Ungarn waren hochgerüstet, ein Krieg schien aufgrund seiner extrem negativen Auswirkungen sehr unwahrscheinlich. Dennoch ist der Erste Weltkrieg 1914 ausgebrochen. Könnte so etwas wieder passieren? Ich fürchte, ja.

Warum?

Einerseits gilt: Die herrschende Klasse will, dass die Menschen Steuern zahlen und arbeiten, anstatt Kriege zu führen. Andererseits gibt es eben diese Parallele - und da erinnere ich wieder an das historische Beispiel von 1913: Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Großbritannien das globale Weltsystem der damaligen Zeit koordiniert. Nach 1989 hatten wir dann eine ähnliche Situation, nur war diesmal Amerika die Führungsmacht. Seither wurden auch tatsächlich wenige Kriege geführt, außer jene, die die USA selbst initiierten. Am Ende des 19. Jahrhunderts war Großbritannien äußerst erfolgreich in der Gestaltung des damaligen Weltwirtschaftssystems. Nicht nur Großbritannien profitierte, einige andere Imperien wurden ebenfalls sehr reich. Womit wiederum Großbritannien kein Problem hatte: Je reicher etwa Deutschland oder die Amerikaner wurden, desto mehr konnte das britische Empire im Handel mit diesen Mächten profitieren. Dann kam aber der Zeitpunkt, als diese Mächte zu veritablen Rivalen für das Empire heranwuchsen. Die Rivalen wussten, dass sie keinesfalls Gewalt anwenden dürfen, um ihre Probleme zu lösen. Plötzlich dachten sie: Wir können nicht mehr länger auf diese zentrale Macht Großbritannien vertrauen, die das System kontrolliert und steuert.

Heute ist es ähnlich: Die USA haben unsere globalisierte Welt aufgebaut. Vom wirtschaftlichen Aufstieg Chinas konnte die Wirtschaft der Vereinigten Staaten stark profitieren. Aber in den kommenden 30, 40 Jahren werden wir einen relativen Abstieg der USA erleben, und China wird zum Rivalen der USA heranwachsen. Dies könnte zu einer Situation führen, die an die Periode zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert.

Das klingt jetzt aber eher pessimistisch als optimistisch.

Ich bin optimistisch in dem Sinne, dass ich glaube, dass die Welt ein friedlicherer Ort wird: Ich bin aber pessimistisch für den Fall, dass es eines Tages zu einem großen Krieg kommen sollte.

Man dachte nach dem Ende des Kalten Krieges, dass die Welt nun ein sehr viel zivilisierterer Ort geworden sei, und auf gewisse Weise stimmt das auch. Auf 20 Nuklearwaffen im Jahr 1986 kommt heute nur mehr eine. Wir können also jetzt nicht mehr jeden Menschen auf diesem Planeten innerhalb von ein paar Tagen töten. Aber die Welt ist seit 1989 sehr viel komplizierter geworden. Jetzt gibt es all diese neuen nuklearen Mächte. Die haben zwar kleinere Arsenale, aber die Regeln der nuklearen Abschreckung sind jetzt völlig andere - beziehungsweise kennen wir sie vielleicht auch nicht. In der guten alten Zeit des Kalten Krieges wussten die beiden Supermächte: Wenn wir einen Nuklearkrieg beginnen, dann werden beide verlieren. Die einzige Frage ist, wer verliert mehr. Die beiden Atom-Mächte Indien und Pakistan haben jeweils 100 oder 200 Atombomben. Das ist vielleicht nicht genug, dass sie einander völlig auslöschen. Aber ab welchem Zeitpunkt in einem möglichen Konflikt würde eine der beiden diese Waffen gegen die andere Seite einsetzen?

Was braucht es für den Frieden?

Starke Regierungen, die den Frieden durchsetzen. Es ist nett, in einer regelbasierten Gesellschaft zu leben, aber diese Regeln muss jemand durchsetzen. Es gibt da eine Utopie, die ein wenig nach New-Age klingt: Vor 700 Millionen Jahren gab es auf unserem Planeten nur Einzeller. Vor 500 Millionen Jahren haben dann einzelne Zellen ein Stück Autonomie aufgegeben und sich zu Mehrzellern zusammengefunden. Diese Zellen stehen nun nicht mehr im Wettbewerb und Nährstoffe oder Licht, sondern arbeiten zusammen. Vielleicht gelingt es der Menschheit, so einen ähnlichen Schritt zu wagen. Die Techno-Optimisten geben einem da Hoffnung: Je mehr wir miteinander kommunizieren, je mehr wir miteinander in Kontakt stehen, umso bessere Chance gibt es für eine derartige Entwicklung.

Ian Morris: Der 1960 in Stoke-on-Trent (England) geborene Historiker und Archäologe lehrt seit 1995 an der Universität Stanford. Sein Buch "Wer regiert die Welt?" wurde zum Bestseller, vor kurzem hat er beim Kreisky Forum für internationalen Dialog sein neues Buch "Krieg: Wozu er gut ist" (Campus-Verlag; 27,80 Euro) vorgestellt.