Die blutige Schießerei im mazedonischen Kumanovo hat Spuren hinterlassen, auch seelische. Eine Reportage.
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Kumanovo. Stumm stehen die Menschen vor den völlig zerschossenen und halb abgebrannten Häusern im dicht besiedelten Wohnviertel "Diva naselba" in Kumanovo, der zweitgrößten Stadt Mazedoniens. Jeder, der in der Nähe wohnt, und sogar Leute aus Skopje sind gekommen, um mit eigenen Augen die Verwüstung zu sehen, die von der Schießerei zwischen Regierungstruppen und unbekannten Angreifern am 9. Mai übrig geblieben ist. "Nie hätte ich gedacht, dass ich so etwas noch einmal sehen muss, sagt eine alte Frau mit Tränen in den Augen. Sie stammt aus Bosnien und hat Familie hier. Der Zustand der Häuser erinnert sie an den Krieg. "Der Krieg hat Jahre gedauert und das hier nur zwei Tage. Trotzdem sieht es hier aus wie damals in Bosnien", sagt sie.
An jenem Tag im Mai wurden die Bewohner des Viertels gegen fünf Uhr morgens von Schüssen geweckt. Eine Gruppe ihnen unbekannter Männer hatte begonnen, Fensterscheiben einzuschießen und wahllos auf die Häuser der Zivilisten zu feuern. "Es dauerte unendlich lange, bis die Polizei auftauchte", sagt Vjosa, eine Mutter zweier Kinder, die in der Nähe wohnt. Als sie schließlich kamen, verbarrikadierten sich die Angreifer in den Wohnhäusern. "Dann begannen die Spezialeinheiten, auf die Häuser zu schießen und noch mehr Schaden anzurichten", erzählt sie, was sie von ihrem Versteck aus gesehen hat. Einige der Häuser fingen Feuer, ganze Dächer stürzten ein. "Sie sind auch mit dem Hubschrauber gekommen und haben von oben geschossen", sagt eine Bewohnerin, die seit Tagen zerbrochenes Geschirr aus den Trümmern sammelt.
"Ethnische Konflikte" hieß es in den internationalen Medien, wenige Stunden, nachdem der letzte Schuss gefallen war, zu einem Zeitpunkt als noch niemand wusste, wer die Männer waren, die von der Regierung als "Terroristen aus dem Kosovo" bezeichnet worden waren. Wie viele Gegenden am Balkan ist Mazedonien ethnisch sehr vielfältig. Seit die Regierung 2002 die Volkszählungen abschaffte, mutmaßlich, um die Menschen über die Zahlen der Ausgewanderten im Dunkeln zu lassen, weiß keiner genau, wie viele Vertreter jede Volksgruppe hier hat. Mazedonier dürften mit knapp 60 Prozent in der Überzahl sein, aber die kleine ex-jugoslawische Republik beheimatet auch eine große albanische Minderheit, Türken, Roma und andere. Wenn hier gefeuert wird, heißt es schnell, es sei ein ethnischer Konflikt gewesen.
"Wir wollen das alles nicht. Unsere Nachbarn sind Mazedonier, die Kinder spielen zusammen. Wir leben hier in Frieden miteinander", betont ein alter Albaner, der vor seinem zerschossenen Haus auf einem Klappstuhl sitzt. Um ihn liegen zerbrochene Spielzeuge und ein schmutziger Kuscheltiger, der aus dem Haus geschleudert wurde, als die Wand des Kinderzimmers im ersten Stock wegbrach.
Die Bewohner des Viertels wehren sich gegen die reißerisch-hetzerischen Vermutungen, sie haben genügend Leid erfahren. Sie erinnern sich an die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen mazedonischen Sicherheitskräften und der albanischen paramilitärischen UCK, die 2001 das Land spaltete, viele Leben forderte und beinahe 170.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieb.
Rätselhafter Hintergrund
Es waren arme Leute, die hier gewohnt haben. Zitternd hatten sie sich mit den Kindern stundenlang in den Kellern versteckt oder waren durch Fenster auf der Hausrückseite geflohen. Wie durch ein Wunder wurde kein Zivilist getötet. Die Leichen, die davongetragen wurden, gehörten den Angehörigen der Spezialpolizeieinheiten und den Angreifern. Die Bewohner stehen jedoch vor dem nichts. Von ihren Häusern ist teilweise kaum noch etwas übrig, den Schaden wird ihnen niemand ersetzen. Am schlimmsten ist die Ahnungslosigkeit über die Motive der Zerstörungswut. Wieso hier? Wieso sie?
Orhan Ceka vom Liberal Alternative Institute (LAI), einem regierungskritischen Think Tank, glaubt an die weit verbreitete These, dass die Attacke von Premier Nikola Gruevskis Partei inszeniert wurde, um von den dieser Tage in Skopje stattfindenden Protesten gegen ihn abzulenken und möglicherweise gar einen Grund zu finden, den Notstand auszurufen und die Demonstranten nach Hause zu schicken. Die ganze Sache habe inszeniert gewirkt und der Angriff wurde nicht von den lokal ansässigen Leuten unterstützt. "Um einen Krieg zwischen den Ethnien zu beginnen, der von der Forderung nach mehr Rechten für die Albaner angetrieben wird, wie diese Gruppe es angeblich wollte, braucht man gewisse Unterstützung von den Albanern hier", sagt er. Die "ethnische Karte" sei von der Regierung in den letzten Monaten öfter gespielt worden. "Immer wenn es eine ökonomische oder politische Krise gibt, inszenieren sie einen Faustkampf in einem Bus oder lassen Mazedonier und Albaner aufeinander losgehen, um die Lage eskalieren zu lassen", so Ceka. Er kritisiert, dass es seit Wochen keine Details über den Vorfall in den Medien gibt, keine Bilder, nur vage Informationen, wer die Angreifer waren.
Die abgehörten, in den letzten Wochen von der Oppositionspartei des Sozialdemokraten Zoran Zaev veröffentlichten Regierungskonversationen lassen darauf schließen, dass das Innenministerium von der Angreifergruppe wusste und auch schon einmal mit ihr in Kontakt stand. Nachdem der Inhalt dieser Gespräche bekannt wurde, begannen sogar Mitglieder von Gruevskis Partei VMRO-DPMNE, sich gegen ihn zu wenden, und forderten mehr Einsatz bei der Aufklärung.
Innenministerium unter Druck
"Was in Kumanovo geschah, ist eine große Schande für unser Land, in erster Linie für das Innenministerium", sagt Jove Kekenovskivon der VMRO-DPMNE. Der Geheimdienst habe versagt und es "Terroristen und Kriminellen" erlaubt, ins Land einzudringen und eine Menge unschuldiger Menschen zu töten. "Ich verstehe nicht, wie diese Institutionen die Aktionen dieser Gruppe so lange verfolgen und trotzdem nichts unternehmen konnten." Vieles läge noch im Dunkeln. Kekenovski ist aber überzeugt, "dass die Wahrheit darüber, wer seine Hände in diesem dreckigen Geschäft hatte, bald herauskommen wird".