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Krieg oder Frieden

Von Veronika Eschbacher

Politik

Deutschland, Russland, die Ukraine und Frankreich wollen heute in Minsk über eine Deeskalation der Krise in der Ostukraine beraten.


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Kiew/Moskau/Wien. "Ich habe wenig Hoffnung auf einen guten Ausgang", sagt Anja, eine junge Kiewerin, auf die Frage, ob die deutsch-französische diplomatische Initiative zu einer Deeskalation der Ukraine-Krise denn spürbare Fortschritte bringen könnte. Am heutigen Mittwoch wollen sich die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine treffen, um einen Waffenstillstand im Osten der Ukraine sowie Schritte in Richtung eines dauerhaften Friedens zu erreichen. "Frühere Waffenstillstände hießen zumeist, dass danach noch mehr gekämpft wird. Und wenn ich ehrlich bin, ich befürchte, dass sie die Ukraine aufteilen", sagt die Angestellte.

Anjas pessimistische Prognose speist sich auch aus den Nachrichten, die die Ukrainer einen Tag vor dem geplanten Gipfel erreichten: Auf der einen Seite warf die Regierung in Kiew den Aufständischen vor, bei einem Angriff mit russischen Raketen auf das Armeehauptquartier in Kramatorsk mindestens sieben Menschen getötet zu haben. Laut der Polizei wurden in angrenzenden Wohngebieten mindestens sechs Menschen getötet und 21 weitere verletzt. Die Rebellen wiesen die Verantwortung zurück und sprachen von einer "Provokation".

Auf der anderen Seite eroberte die Armee laut eigenen Angaben bei einer Offensive um die Hafenstadt Mariupol mindestens drei Dörfer, weitere waren demnach umkämpft. Auch im seit Wochen umkämpften Debalzewo kam es erneut zu heftigen Gefechten. Binnen 24 Stunden wurden 20 Menschen getötet, seit Beginn des Konfliktes sind es 5600 Tote.

Seit Ende der Vorwoche sind vor allem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident, François Hollande, zwischen Kiew, Moskau, Brüssel und Washington aktiv, um den anvisierten Krisengipfel in Minsk zu sichern. Bis zuletzt zeigten sich die Seiten vorsichtig, was das Zustandekommen des Treffens anbelangte. "Noch ist nichts unter Dach und Fach", sagte der französische Außenminister Laurent Fabius Dienstagnachmittag in Paris. Die Verhandler, die die Gespräche vorbereiten, würden ihr "Maximum" geben. Der russische Präsident hatte im Vorfeld des geplanten Treffens gewarnt, es blieben noch "einige Punkte" zu klären, damit der Gipfel tatsächlich stattfinden könne. Das Treffen wird von manchen als die "letzte Chance" für eine Lösung beschrieben, um einen offenen Krieg in der Ukraine zu vermeiden. Der deutsch-französische Friedensplan für das Treffen wurde bisher nicht öffentlich gemacht.

Umstrittene Frontlinie

Für den Ukraine-Experten Balazs Jarabik, Gastforscher beim Think Tank "Carnegie Stiftung für Weltfrieden", steht trotz aller Vorsicht der beteiligten Parteien fest, dass das Treffen in Minsk stattfinden wird. Genau so klar sei für ihn, dass das Treffen nicht ohne ein Abkommen enden wird. "Man trifft sich nicht auf derart hoher Ebene, um danach ohne Resultat an die Öffentlichkeit zu treten", sagt Jarabik.

Die Verhandlungen selbst würden aber, so der Experte, sehr knifflig sein. Er erwarte beim Verlauf der Frontlinie eine Einigung. Seit dem letzten Abkommen, das Anfang September in Minsk erzielt werden konnte (aber von beiden Parteien praktisch nicht umgesetzt wurde), gelang es den Aufständischen, 500 Quadratkilometer an Fläche zu erobern. "Die Ukraine wird wohl Debalzewo abgeben müssen, dafür könnte ihr Mariupol bleiben", sagt Jarabik. In diesem Lichte sei auch die gestrige Offensive der Armee rund um Mariupol zu sehen - um die wichtige Hafenstadt vor den Verhandlungen abzusichern.

Debalzewo ist ein Eisenbahnknotenpunkt, der, so Jarabik, vor allem für die Rebellen von strategischem Interesse ist. Die Armee hat dort seit Monaten Truppen zusammengezogen, heute sind dem Experten zufolge dort 5000 bis 6000 ukrainische Armeeangehörige eingekesselt - "und dadurch das wichtigste Druckmittel in den Verhandlungen für Russland und die Rebellen." Letztere würden auch auf eine Pufferzone rund um Donezk und Luhansk bestehen. Einigen sich die Seiten nämlich auf einen Rückzug der schweren Artillerie um 15 Kilometer auf beiden Seiten, würden die Aufständischen beide Städte verlieren.

Grenzüberwachung offen

Sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, sei eine Einigung in der Frage, wer die ukrainisch-russische Grenze kontrollieren solle und die Frage von Friedenstruppen. "Eine der Lektionen, die wir nach Minsk-1 gelernt haben, ist, dass wenn es keine Peacekeeper vor Ort gibt, weder die ukrainischen Truppen noch die Rebellen bereit sind, die Kämpfe einzustellen", sagt Jarabik. Eine der Schlüsselfragen sei also, wie man die Seiten auseinanderhalten kann. Die einzige "naturgemäße" Vereinbarung wäre in diesem Fall der Einsatz von Peacekeepern.

Wer diese Aufgabe übernehmen könnte, sei eine sehr delikate Frage. Die Rebellen würden niemanden außer russischen Friedenstruppen zulassen - "und afrikanische werden wir wohl in der Ostukraine kaum haben". Jegliche Art von russischen Friedenstruppen im Donbass würde laut Jarabik zudem im Wesentlichen heißen, dass sie - gleich wie in Transnistrien - das Terretorium okkupieren. "Der Vorteil hier wäre aber, dass sie die Rebellen unter Kontrolle halten könnten."

Kriegsmüde Bevölkerung

Jarabik erwartet, dass im Falle einer neuen Übereinkunft in Minsk der Konflikt insgesamt eingefroren wird. "Das sollte in diesem Stadium auch im Interesse der Ukraine sein", sagt Jarabik. Denn es würde Kiew erlauben, sich den wichtigsten Aufgaben zu widmen, vor allem der kollabierenden Wirtschaft und der mehr als angespannten finanziellen Lage des Landes. Dies entspreche zwar nicht dem, was die ukrainische politische Führung der eigenen Bevölkerung versprochen habe. Jarabik gibt sich aber überzeugt, dass sich viele Ukrainer dafür erwärmen könnten, wenn sie das vielleicht auch nicht unbedingt öffentlich ausdrücken würden. "Wir haben aber immer mehr Belege dafür, dass die Bevölkerung nicht kämpfen will. Sie finden nicht, dass das ihr Krieg ist. Es wird mehr und mehr der Krieg ihrer Politiker."

Die Aussicht eines eingefrorenen Konfliktes im eigenen Land halten manche ukrainische Experten für äußerst unbefriedigend. "Die Ukraine ist nicht das Land, auf das man einfach vergessen darf, nachdem es geschafft ist, den Konflikt einzufrieren", sagt Viktor Zamjatin vom Kiewer Think Tank "Razumkov Center". Seiner Meinung nach hätten viele in der EU und USA noch nicht verstanden, dass es sich in der Ukraine nicht um einen Bürgerkrieg handle, sondern um einen Krieg der Ukraine gegen Russland. Darüber hinaus aber, und das sei viel wichtiger, sei längst ein Krieg um die Werte, auf die Europa und die USA ihre Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, ausgebrochen. Die Ukraine dürfe nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denn der Konflikt sei "eine sehr große Bedrohung für den Aufbau und die Struktur der gesamten modernen Welt".

Ob sich die Aufständischen nach einer neuen Einigung denn zufrieden geben werden und künftig auf weitere Vorstöße verzichten? Jarabik wagt keine Prognose. "Wenn die Ukraine nicht imstande ist, mit dem Finanz- und Wirtschaftschaos im Land fertigzuwerden, kann alles passieren." Das Land sei sehr fragil. Je länger Kiew zur Bewältigung der dringendsten Fragen brauche, desto mehr Formen von Selbstregierung seien zu erwarten. Bereits heute berichte etwa die Dnjepropetrowsker Polizei nicht mehr an das Innenministerium in Kiew, sondern an den amtierenden Gebiets-Gouverneur Ihor Kolomojskij. "Wir beobachten heute schon eine De-facto-Fragmentierung des Staates." Solange Kiew es nicht schafft, hier die Zügel zusammenzuhalten, werde das Chaos und die Krise andauern. "Wer von diesem Chaos dann profitiert, weiß ich nicht."

Keine erbaulichen Aussichten - weder für die ohnehin schon vom Konflikt betroffenen Bewohner des Donbass noch den Rest des Landes. "Ich habe Angst vor Krieg", sagt die Kiewerin Anja.