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Krieg ohne Regeln

Von Siobhán Geets und Tanja Wieser

Politik

Antoine Grand vom Roten Kreuz über Syrien und Libyen und den Trend zu immer länger andauernden Krisen.


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"Unsere Hauptsorge gilt der Sicherheit unserer Mitarbeiter", sagt Antoine Grand. Er fordert mehr Respekt für humanitäre Helfer in Krisengebieten.
© Stanislav Jenis

"Wiener Zeitung": Die Situation in Libyen ist chaotisch, es gibt immer noch keinen funktionierenden Staat. Die EU plant dennoch, Registrierzentren zu errichten, damit die Menschen nicht nach Europa kommen. Glauben Sie, das Vorhaben kann funktionieren, wenn es nicht einmal eine Regierung gibt?<p>Antoine Grand: Es liegt nicht an uns, das zu beurteilen. In dem Land wird seit dem Sturz von Landzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi gekämpft, zwei Regierungen streiten um die Legitimität. Es gibt zahlreiche Milizen und intensive Kämpfe in Sirte und Bengasi. Bengasi wird gerne vergessen, dabei wird hier seit mehr als zwei Jahren gekämpft. Die Frontlinie verläuft, ähnlich wie im syrischen Aleppo, mitten durch die Stadt. Libyen hat zwar wertvolle Ressourcen, ist aber nicht in der Lage, die Ölvorkommen zu nutzen. Wir mussten heuer unser Budget für und unsere Präsenz in Libyen aufstocken. Es gibt sehr viele Flüchtlinge und Binnenvertriebene, vor allem Krankenhäuser brauchen Unterstützung. Das ist derzeit unsere größte Sorge.<p>Was würde Ihnen die Hilfe erleichtern?<p>Unsre Hauptsorge gilt der Sicherheit unsrer Mitarbeiter. Der libysche Rote Halbmond ist zwar vor Ort und arbeitet mit uns zusammen, aber das Rote Kreuz (IKRK) agiert von Tunesien aus. Der Rote Halbmond kann nicht bis nach Sirte vordringen, hilft aber in den Vororten. Unsere Hilfe erleichtern würde mehr Respekt gegenüber den Mitarbeitern. Es gab, gerade in Bengasi, einige willkürliche Angriffe auf Helfer. Als ich vor einem Jahr dort war, wurde die Zentrale des libyschen Roten Halbmondes beschossen.<p>Können Sie feststellen, wer dafür verantwortlich war?<p>Die Situation in Bengasi ist so chaotisch, dass es fast unmöglich ist zu sagen, welche der beiden Konfliktparteien verantwortlich war. In den vergangenen fünf, zehn Jahren beobachten wir weltweit den Trend, dass sich die Schlachtfelder mehr und mehr in die Städte verlagern. Das ist eine normale Entwicklung, denn mittlerweile leben weltweit mehr als 50 Prozent der Menschen in Städten, das ändert aber alles. Finden die Kämpfe in den Städten statt, sind die Auswirkungen wegen der dichten Besiedlung viel größer. Das sieht man in Aleppo und Bengasi. Die staatliche Infrastruktur wie Wasser, Gesundheit, Abwasser und so weiter ist miteinander verbunden. Wird die Stromversorgung zerstört, dann betrifft das auch Krankenhäuser, Wasserpumpen und so weiter. Das sehen wir nun vermehrt. Bei einer Belagerung von Städten werden die Menschen nicht mehr versorgt und können auch nicht fliehen.<p>Die Verlagerung in die Städte erschwert also Ihre Arbeit?

<p>Wir müssen uns, genauso wie die Betroffenen vor Ort, an diese Entwicklungen anpassen. Vor zehn Jahren fand das alles mehr am Land statt. Dort können die Menschen mitunter auf Subsistenzwirtschaft zurückgreifen, in einer belagerten Stadt ist das unmöglich. In Aleppo etwa versuchen wir, zumindest die Versorgung mit Wasser und Strom aufrecht zu erhalten. Wir arbeiten mit Generatoren, Ersatzteilen und Reparaturen. Wir haben in Aleppo 13 oder 14 Bohrlöcher gebohrt, die die Stadt zwar nicht über lange Zeit versorgen können, aber zumindest einigen Nachbarschaften sauberes Wasser bringen.<p>Ziehen sich die weltweiten Konflikte zunehmend in die Länge oder täuscht dieser Eindruck?<p>Die zehn schwersten Krisen, in denen wir Hilfe leisten, dauern im Schnitt schon 36 Jahre an. In Syrien sind wir seit 1967, im Südsudan und in Palästina auch schon seit Jahrzehnten. Die Konflikte dauern also, wenn es auch immer wieder weniger angespannte Phasen gibt. Auch die Grenze zwischen akuten, kurzfristigen Aktionen und Langzeitprojekten beginnt zu verschwimmen, weil die Krisen lange andauern. Die Hilfe in den Ländern, die schon lange in der Krise stecken, ist zudem schwieriger zu finanzieren.<p>In Libyen warten Hunderttausende auf eine Überfahrt in die EU. In Europa befürchten viele, überrannt zu werden. Verstehen Sie diese Furcht oder kann Libyen in absehbarer Zeit stabilisiert werden?<p>Es handelt sich um ein äußerst instabiles Land. Die neue Regierung ist nicht von allen Parteien anerkannt. Momentan ist es sehr chaotisch, es gibt viele Milizen und ein politisches Vakuum, das den Menschenschmugglern ihr Geschäft erleichtert. Die Flüchtlinge kommen aus den Staaten südlich der Sahara und sind sehr verwundbar, werden ausgebeutet. Viele kommen nach Libyen, um dort zu arbeiten, finden sich dann aber in einer gefährlichen und chaotischen Situation wieder und beschließen, weiter zu fliehen.<p>Was geschieht mit den Flüchtlingen dort, wo leben sie und an welche Stellen können sie sich wenden?<p>Sie sind für uns nicht sehr sichtbar. Rund 25.000 pro Monat fliehen nach Italien. Das entspricht in etwa der Zahl, die vor dem EU-Türkei-Deal von dort aus nach Europa kamen. Das Problem ist, dass wir die Flüchtlinge in Libyen kaum erreichen. Die Sicherheitslage erschwert die Arbeit enorm. Einer meiner Kollegen wurde 2014 in Sirte erschossen. Wir sind sehr vorsichtig geworden.<p>Wenn es zu den Registrierungszentren in Libyen kommt, wie die EU das plant: Wird das Internationale Rote Kreuz die Möglichkeit haben, vor Ort zu sein und zu helfen, diese Camps zu leiten?<p>Das IKRK mischt sich nicht ein, was die Leitung der Camps betrifft. Was wir tun, ist, die Bedingungen zu beobachten, ob Migranten die Möglichkeit haben, ihre Familie zu kontaktieren und ob Grundrechte gegeben sind. Wie im Rest der Welt stellen wir sicher, dass Migranten nicht zurück in ein Land geschickt werden, wo das Risiko von Menschenrechtsverletzungen und Gewalt besteht. Wir achten darauf, dass ihre Rechte respektiert werden. Schon heute helfen wir den Menschen in Auffanglagern in Libyen etwa dabei, ihre Familien zu kontaktieren. Menschen werden über Monate vermisst und von ihren Angehörigen gesucht. Bei 25 Prozent sind wir erfolgreich.<p>Und das ist viel?<p>Das scheint nicht viel zu sein, aber in dieser Situation ist es ein sehr hoher Wert. Es sterben viele Menschen während der Flucht und wir arbeiten mit italienischen Behörden zusammen, um die Leichen zu identifizieren. Dann müssen wir den Angehörigen die Nachricht übermitteln, dass die Menschen, die sie vermissen, tot sind. Das gibt ihnen die Möglichkeit, abzuschließen.<p>Die Situation in Syrien wird immer komplexer. Seit vergangener Woche bekämpft die Türkei die Kurdenmilizen in Nordsyrien. Wie beeinflusst der Eingriff von letzter Woche die Arbeit des IKRK?<p>Die Situation ist schon durch den hohen Grad an Zerstörung der Infrastruktur, getöteten und verwundeten Menschen sowie der Migrationskrise schwierig. Aber durch die hohe Anzahl an verschiedenen Akteuren, die sich gegenseitig bekämpfen, wird sie noch komplexer. Der Hauptgrund für das Leid in Syrien ist der fehlende Respekt für Menschenwürde oder, um es technischer auszudrücken, für die Genfer Konvention.Wenigstens diese Grundregeln (zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegen, Anm.) sollten respektiert werden, also etwa die ärztliche Mission nicht zu missachten. Es gab viele Attacken auf Krankenhäuser. Aber auch Unterkünfte, Orte, wo man sich sicher fühlen sollte, werden angegriffen.<p>Glauben Sie an eine Lösung oder auch nur an einen ersten Schritt für eine Lösung in Syrien?<p>Würden Menschenwürde und Zivilisten respektiert, wäre der Friedensprozess viel einfacher. Überschreitet man diese Grenze, wird es immer schwieriger, Frieden zu erreichen. Die Feindseligkeit, der Hass werden immer intensiver. Die Achtung der Grundregeln wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Antoine Grand, geboren 1976 in Belgien, ist stellvertretender Einsatzleiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Grand studierte Jus an der Universität Lüttich sowie in Cambridge, bevor er 2000 zum Roten Kreuz in Genf kam. Seither arbeitete er in zahlreichen Konfliktgebieten, darunter Afghanistan, Ägypten, Äthiopien, Libyen und der Irak.