Wie die Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit stärken kann.
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Die EU-Staats- und Regierungschefs haben seit langem erkannt, dass eine tiefere europäische Integration mit einer größeren Souveränität der EU einhergehen muss. Das heißt, dass die europäischen Regierungen nicht nur miteinander kooperieren, sondern auch ihre externe Handlungsfähigkeit stärken müssen, um nicht zum Spielball anderer Mächte zu werden. Der russische Angriff auf die Ukraine hat jedoch die Unzulänglichkeit der bisherigen Bemühungen um ein souveränes Europa offenbart. Ohne die Führung der USA hätte die EU keine gemeinsame Antwort auf die russische Aggression geben können - oder jedenfalls keine nennenswerte. Doch die Europäer können ein Eingreifen der USA künftig nicht als selbstverständlich ansehen. Daher ist es für die EU von entscheidender Bedeutung, ihre eigene Handlungsfähigkeit schnell und nachhaltig zu verbessern.
Der neue "European Sovereignty Index" ("Europäischer Souveränitätsindex") des European Council on Foreign Relations (ECFR) bietet einen evidenzbasierten Vergleich dessen, was die verschiedenen EU-Mitgliedstaaten zur europäischen Souveränität beitragen. Er bewertet sie nach ihren Fähigkeiten und ihrem Engagement für gemeinsame Maßnahmen in sechs Bereichen: Klima, Verteidigung, Wirtschaft, Gesundheit, Migration und Technologie. Auf diese Weise werden Europas "Vorreiter", "Aufsteiger", "One-Hit-Wonder" und "Underperformer" beim Aufbau einer souveräneren Union identifiziert. Eine der zentralen Erkenntnisse des Index ist, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Souveränität in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung dringend stärken müssen.
Deutschlands und Frankreichs Scheitern
Nominell schneiden Frankreich (das im Index mit 8,7 von 10 Punkten bewertet wird) und Deutschland (6,8 Punkte) in diesem Bereich am besten ab. Ihr Gewicht hebt den EU-Durchschnitt auf "befriedigende" 5,9 Punkte. In der Praxis war es den Regierungen in Paris und Berlin allerdings nicht möglich, sich auf eine Vision für eine gemeinsame Sicherheit und Verteidigung zu einigen - und beide haben Mühe, die Unterstützung anderer EU-Staaten für das Vorhaben zu gewinnen. Vor allem dem französischen Präsidenten Macron ist es nicht gelungen, die Mittel- und Osteuropäer von seinen Plänen für eine "strategische Autonomie" zu überzeugen. Und genau jene mittel- und osteuropäischen EU-Staaten sowie einige in der nordischen Region sahen Russlands Krieg gegen die Ukraine als Test für die Zuverlässigkeit Frankreichs und Deutschlands als Garanten europäischer Sicherheit - doch beide sind gescheitert.
Die USA waren führend in den internationalen Bemühungen zur Bewaffnung des ukrainischen Widerstands: Amerikanische, aber auch australische und kanadische Artilleriesysteme wurden bereits im April in großer Zahl in die Ukraine geliefert. Die sieben deutschen Selbstfahrlafetten trafen dagegen erst Ende Juni ein. Es war der US-Verteidigungsminister, der die Nato-Partner auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Westdeutschland zusammenrief, um zu diskutieren, wie die militärischen Fähigkeiten der Ukraine gestärkt werden können - und nicht etwa Frankreich, das den Vorsitz im EU-Rat innehatte, oder eben die deutsche Verteidigungsministerin selbst.
Die USA als Schutzmacht der Europäer
Ähnlich verhält es sich mit den Versuchen, die europäische Verteidigung gegen die Gefahr einer weiteren russischen Aggression zu wappnen. Die USA haben mit der Verlegung zehntausender zusätzlicher Truppen und Ausrüstung nach Deutschland und an die Ostflanke des transatlantischen Militärbündnisses die Hauptarbeit bei der Stärkung der Abschreckung und der Rückversicherung geleistet. Auch bei der Anpassung der Verteidigungs- und Abschreckungspositionen der Nato waren sie federführend. Darüber hinaus würde wohl kein europäischer Staats- und Regierungschef bestreiten, dass der nukleare Schutzschirm der USA der ultimative Rückhalt auch für die europäische Sicherheit gegenüber Russland darstellt, das über das größte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt und zudem gewillt ist, notfalls Krieg zu führen. Damit ist die Idee einer europäischen strategischen Autonomie als Ersatz für ein US-Engagement in der europäischen Sicherheit so gut wie diskreditiert.
Der Krieg war daher ein ernüchternder Schock für die Europäer, die nun mit neuer Dringlichkeit über den Schutz und die Verteidigung Europas nachdenken müssen. Seit dem 24. Februar haben viele Regierungen erhebliche Erhöhungen des Verteidigungshaushalts angekündigt. Doch das Engagement der EU-Staaten für Sicherheit und Verteidigungssouveränität wird im Durchschnitt doppelt so hoch bewertet wie ihre tatsächlichen Fähigkeiten. Die Europäer sollten daher gemeinsam ihre kritischen Fähigkeitsdefizite ausgleichen, damit sie die Hauptlast der konventionellen Abschreckung gegen Russland tragen und für Stabilität in ihrer Nachbarschaft sorgen können.
Die einzelnen Mitgliedstaaten werden in den kommenden Jahren große Summen in die Verteidigung investieren. Angesichts dessen sind die im "Strategischen Kompass" der EU vorgeschlagenen Anreize, die sicherstellen sollen, dass das Geld an den richtigen Stellen ausgegeben wird, dringend erforderlich. Zudem haben die Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem Treffen in Versailles im heurigen März die EU-Kommission und die Europäische Verteidigungsagentur beauftragt, konkrete Vorschläge zu machen, wie sie gemeinsam Investitionslücken schließen und die industrielle und technologische Basis der europäischen Verteidigung stärken können.
Gräben innerhalb der Europäischen Union
Diese Vorschläge ergänzen bestehende Instrumente wie den Europäischen Verteidigungsfonds und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) und verfügen über eine zusätzliche finanzielle Schlagkraft. Die EU sollte sie zügig umsetzen, indem sie militärische Ressourcen beschafft und entwickelt, die auch die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der Nato stärken.
Der "European Sovereignty Index" zeigt aber auch deutliche Gräben innerhalb der Europäischen Union auf. Einige Mitgliedstaaten - vor allem diejenigen, die der EU seit 2004 beigetreten sind - sehen die US-Sicherheitsgarantien als ihre wichtigste Lebensversicherung an. Andere betrachten die EU als einen wichtigen Akteur in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung (oder würden die EU gerne zu einem solchen machen). Um mehr mittel-, ost- und nordeuropäische Unterstützung für EU-Initiativen zu gewinnen, wird es daher notwendig sein, Lösungen zu verfolgen, die das Engagement der USA in Europa aufrechterhalten.
Gleichzeitig müssen sich jene Länder, die einer größeren Rolle der EU in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung bisher skeptisch gegenüberstehen, konstruktiver in die laufende Diskussion einbringen und mit eigenen Alternativen auf die ihrer Meinung nach irreführenden Ideen reagieren. Die Abschaffung des Verteidigungsvorbehalts in Dänemark sowie die Nato-Beitritte Finnlands und Schwedens sind vielversprechende Entwicklungen im Hinblick auf die Kohärenz der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Sich überschneidende Zusammenarbeit
Die Europäer können es sich nicht länger leisten, darüber zu zanken, welche Organisation den zentralen Rahmen für die europäische Souveränität bilden soll. Ein Netzwerkansatz, der eine sich überschneidende Zusammenarbeit im Rahmen der Nato, der EU sowie bilateraler und minilateraler Formate umfasst, birgt für die Europäer das größte Potenzial, kritische Lücken in ihren Fähigkeiten zu schließen und die Einsatzfähigkeit zu erhöhen.
Die transatlantischen Beziehungen sind derzeit stark. Die führenden Politiker der EU sollten sich jedoch nicht der Illusion hingeben, dass die Prioritätenverschiebung in Washington und die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung der Europäer an der Lastenverteilung nachlassen werden. Die Europäer haben das Potenzial, eine viel größere Rolle bei der Verteidigung des europäischen Projekts, ihrer Sicherheit und ihrer Wirtschaft gegen einen entschlossenen Aggressor zu spielen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine und auch andere sich abzeichnende Herausforderungen machen dies dringender denn je.