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Kriegslast auf schmalen Schultern

Von Michael Schmölzer aus dem Libanon

Politik

Hunderttausende traumatisierte syrische Flüchtlingskinder leben im Libanon - ihre Lage wird zunehmend schwierig. Die "Wiener Zeitung" war vor Ort.


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Beirut. 52 Prozent der 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Libanon sind Minderjährige. Die UNO spricht von einer verlorenen Generation, die in Armut, ohne Schulbildung und ohne Perspektiven heranwächst. Viele der unter 14-Jährigen sind für den Unterhalt der Familie verantwortlich, viele Mädchen werden vergewaltigt, müssen sich prostituieren oder im Kindesalter heiraten, um sich über Wasser halten zu können. 70 Prozent der syrischen Flüchtlingskinder gehen nicht in die Schule. Viele rutschen in die Kriminalität ab, bilden Banden und handeln mit Waffen. Hilfe wäre nötig, doch die internationalen Gelder fließen spärlich. Die "Wiener Zeitung" hat in Beirut mit Soha Bsat Boustani und Miriam Azar vom UN-Kinderhilfswerk Unicef gesprochen und sich das Ausmaß der Tragödie schildern lassen.

"Wiener Zeitung": Welches sind hier die Hauptprobleme für Unicef?

Soha Bsat Boustani: Wir gehen insgesamt in eine sehr schwierige Zukunft, die Zahl der Flüchtlinge ist extrem hoch. Mittlerweile ist es so, dass die Libanesen das Gefühl haben, ihre Sicherheit sei wichtiger als humanitäre Hilfe. Die libanesische Regierung ergreift rigorose Maßnahmen in den Flüchtlings-Zeltlagern - vor allem dann, wenn man der Ansicht ist, dass dort bewaffnete Elemente sein könnten. Das führt zu einer Art Panik, die die libanesische Gesellschaft mittlerweile erfasst hat. Zunächst waren sie gegenüber Flüchtlingen sehr gastfreundlich, doch jetzt überwiegt das Gefühl, dass die Krise auch für den Libanon lebensbedrohlich wird.

Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Boustani: Das ist für uns als Unicef eine große Herausforderung. Denn wir wollen die Schwächsten erreichen. In einem Umfeld, das hoch politisiert ist und sensibel gegenüber Spannungen, wird unsere Arbeit in allen Bereichen nicht leichter. Die Löhne sinken hier allgemein, das Wasser wird knapp durch die Flüchtlingskrise. Der Libanon absorbiert den Konflikt im Nachbarland, und ein Ende ist nicht absehbar. Es ist ein Teufelskreis.

Wie sieht es mit den Kindern aus, die aus Syrien kommen? Wie kann man ihren Zustand beschreiben?

Boustani: Es muss klar festgestellt werden, dass es nicht ein einziges Kind gibt, das nicht zugesehen hätte, wie sein Haus zerstört, wie die Familie angegriffen wird oder wie ein Familienmitglied stirbt, das nicht eine Wunde abbekommen hat, die das ganze Leben bleibt. Alle Kinder sind durch das, was sie erlebt und gesehen haben, psychisch betroffen. Was sie gesehen haben, ist nicht etwas, das ein Kind sehen sollte - ein Erwachsener auch nicht. Viele Kinder sind hierher gekommen, nachdem sie lange in Syrien auf der Flucht waren. Viele leben hier in Armut, obwohl sie in Syrien wohlhabend waren; die Umstände haben sich völlig geändert. Die Kinder sehen, dass der Vater keinen Job bekommt. Das schafft in den Familien Spannungen, oftmals kommt es zu Gewalt.

Welches Verhalten legen diese traumatisierten Kinder an den Tag?

Boustani: Nach dem, was wir gesehen haben und dem, was uns Lehrer berichten, ist es so, dass sich die Kinder zunächst nicht konzentrieren können. Sie sind sehr aufgekratzt, manchmal gewalttätig. Viele sitzen in der Ecke und wollen nicht mit den anderen interagieren. Diese Kinder haben ihre gewohnten Strukturen völlig verloren. Unsere Aufgabe ist es, den Kindern so etwas wie Normalität und Sicherheit zu bieten; ihnen zu zeigen, dass es Regeln gibt, dass der Tag eine Struktur hat. Wir haben fallweise auch sehr schwierige Fälle gesehen, etwa Kinder, die die Fähigkeit verloren haben, zu sprechen. Diese bekommen zielgerichtete psychosoziale Hilfe, manchmal dauert es bis zu zwei Monate, bis wir sie an Bord haben. Aber wir können nicht jedes Kind, das diese Hilfe bräuchte, erreichen. Wenn ein Kind arbeiten muss und vier Dollar am Tag verdient, weil es der Ernährer der Familie ist, dann ist das jedenfalls eine Konstellation, die nicht normal ist.

Die Kinder verlieren also ihre Kindheit . . .

Boustani: Ja. Sie übernehmen die Verantwortung für ihren Vater und ihre Mutter, und das ist wieder nicht normal, das ist nicht akzeptabel.

Die Zahl der Kinder, die betroffen sind, ist enorm. Wie werden die Langzeitfolgen aussehen?

Viele Kinder, die hierher in den Libanon kommen, waren zwei bis drei Jahre nicht in der Schule. Das heißt, sie müssen bei null beginnen. Sie haben Lesen und Schreiben wieder verlernt. Wenn diese Kinder später in ihre Heimat zurückkehren, werden sie nicht in der Lage sein, dort eine Rolle zu spielen. Unicef spricht von einer verlorenen Generation. Wo sind die Lehrer, Ärzte und Rechtsanwälte von morgen? Wer wird diese Lücke füllen? Wir reden hier nicht nur von syrischen Kindern im Libanon. Viele sind in Syrien auf der Flucht, viele im Irak, in Jordanien. Die Rede ist von Millionen Menschen.

Hier im Libanon gibt es kaum das Nötigste für die Flüchtlinge. Ist überhaupt Geld für Traumatherapien vorhanden?

Miriam Azar: Zehn Prozent der Kinder bekommen zusätzliche Hilfe, aber wir erreichen bei weitem nicht alle. Zudem ist häusliche Gewalt ein sehr sensibles Thema.

Die Männer in den Flüchtlingsunterkünften können ihre Rolle als Versorger nicht mehr spielen. Kann man sagen, dass es die Frauen sind, die mit der Situation am besten zurande kommen?

Azar: Die Frauen haben hier mehr Verantwortung, es gibt viele Haushalte mit Frauen als Oberhaupt. Wir wenden uns an die Frauen, weil sie es sind, die sich um das Kindeswohl sorgen. Ja, ich würde sagen, es sind viele sehr starke Frauen da draußen. Sie schleppen das Wasser, organisieren das Leben in einem Zelt. Unterstützung durch Männer fehlt.

Aber die Chefs in den Flüchtlingslagern sind immer Männer?

Das sind immer Männer. Sie treffen die Entscheidungen. Deren Frauen haben manchmal ebenfalls sehr viel zu sagen.

Wie sieht es mit Kinderarbeit aus?

Azar: Die Zahl der Kinder, die in den Straßen arbeiten, ist stark nach oben gegangen. Dabei sind gerade sie die Schutzbedürftigsten. Das Risiko der Ausbeutung und des Missbrauchs ist hier besonders hoch. Manche Kinder handeln mit Waffen, es haben sich Banden gebildet. Dieses Problem tritt im städtischen Bereich auf, in Beirut und in Tripoli. Es gibt auch libanesische Kinder auf der Straße, in der Mehrheit sind es aber syrische.

Wie sieht es mit Drogen und Alkohol bei diesen Kindern aus?

Azar: Zumindest Zigaretten rauchen viele. Fünfjährige Mädchen, die rauchen. Es fehlt die Struktur, es fehlt die Disziplin. Es kommt öfter zu extremen Verhaltensweisen.

Wie verhalten sich die jugendlichen Flüchtlinge zwischen 15 und 20 angesichts der extremen Situation?

Azar: Oft werden Mädchen sehr jung verheiratet in der irrigen Hoffnung, dass sie dann nicht vergewaltigt werden. Bei Jugendlichen erkennen wir oft Depressionen, es gibt sehr oft Suizid-Versuche. Die meisten Jugendlichen finden keine Arbeit. Die Frustration ist hier sehr groß. Die Jungen laufen Gefahr, dass sie von Extremisten angeworben werden. Jugendbanden sind in Waffen- und Drogenhandel involviert, auch Prostitution gibt es. Meistens wird das von Erwachsenen organisiert, das kann sogar der Vater sein. Der Krieg in Syrien hat zur Folge, dass die sozialen Regeln nicht mehr gelten. Prostitution ist mit einem großen Stigma belegt, deshalb wissen wir nicht ausreichend darüber.

Zu den Personen: 

Miriam Azar arbeitet als "Communication Specialist" beim UN-Kinderhilfswerk. Sie ist in Beirut stationiert.

Soha Bsat Boustani ist leitende Sprecherin des Unicef im Libanon und ebenfalls in Beirut tätig.