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Kriminalität und Künstlertum

Von Rolf-Bernhard Essig und Gudrun Schury

Reflexionen

Von Benvenuto Cellini bis Wolfgang Beltracchi reicht der Reigen jener Männer, bei denen ästhetisches Schaffen und verbrecherisches Tun Hand in Hand gehen..


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Die Medien stürzen sich mit Begeisterung auf Nachrichten, die mit "Kunst und Verbrechen" einerseits, "Künstler als Ausnahmemenschen" andererseits zu tun haben. Dabei sind doch Musik, Malerei, Literatur angeblich schöne Künste. Wie kann also jemand seine "feinen Finger" einerseits für die Fertigung von Kunst einsetzen, andererseits für Mord, Diebstahl, Körperverletzung?

Genie und Gewalt

Er kann! Das bewies besonders eindrucksvoll schon Benvenuto Cellini. Der zu Allerheiligen 1500 geborene Künstler hatte Zeichnen, Goldschmieden und plastisches Arbeiten gelernt, sich an antiken Bauwerken, Michelangelo und den großen Kunsthandwerkern seiner Zeit gebildet. In Florenz und Rom schuf er für Adelige und Kardinäle goldene Medaillen und Schmuckstücke, silberne Gürtelschnallen, Siegel, Leuchter, Wasserkannen, Vasen und ein Salzfass in Form eines römischen Sarkophags, die Saliera (die dann später selbst Gegenstand eines kriminellen Aktes werden sollte.)

So gut er mit Zeichenstift und Stichel umgehen konnte, so perfekt handhabte Cellini auch Fäuste, Degen, Dolch und Gewehr. Immer wieder wurde er in Schlägereien verwickelt - und mit 23 in Florenz wegen einer besonders gravierenden sogar zum Tode verurteilt. Diesem Verdikt entzog er sich durch Flucht nach Rom. Das Muster aus Gewalttätigkeit, Geltungsdrang und Geniegebaren prägte Cellinis Leben aber wie er die Münzen seiner Auftraggeber. Darunter waren Päpste und Könige, die ihm regelmäßig Straftaten nachsahen, vergaben oder sogar die Absolution erteilten, selbst wenn es sich um Mord handelte.

Der renommierte Kunsthistoriker Horst Bredekamp weist auf eine Art von Gleichheit hin, die Herrscher und Künstler der Renaissance empfanden. Der von Gottes Gnaden thronende Kaiser oder Papst stand außerhalb der Gesetze, ebenso wie der von Gott inspirierte Künstler, der selbst ein Schöpfer war, dessen huldigende Werke darüber hinaus den Potentaten überzeitliche Dauer versprachen. Karl V., so empfanden damals viele, konnte man ebenso wenig wie Bernini, Leoni oder Caravaggio mit jenem Maßstab messen, der für die Menge galt. Einige Künstler verhielten sich dementsprechend. Sie trugen Waffen, obwohl sie damit gegen Gesetze verstießen. Sie verletzten einander mit Spottversen, Schlägen, Schwertern.

"Ausnahmemenschen"

In den Künstlerkreisen Roms um 1600 ging es, wie zahlreiche Quellen belegen, wie unter Rappern im heutigen Los Angeles zu. Wer Erfolg und Aufträge, hochgestellte Gönner und noch höhere Preise wollte, der spürte zumindest den Reiz, künstlerisch und im Kampf um die Ehre hervorzustechen. Blutige Auseinandersetzungen bis hin zu Mord und Totschlag gehörten dazu, wenngleich verbrecherische Künstler, nimmt man die Masse der damals in der Papstmetropole tätigen "Kreativen", wiederum eine klare Minderheit darstellten. Weil sie aber teils künstlerisch, teils durch Gesetzesbrüche aus dem Gros der anderen herausragten, ihre Kollegen und die Polizeikräfte provozierten, gibt es über sie natürlich auch besonders viele Quellen.

Damals entwickelte der Mythos vom Künstler als Ausnahmemenschen jedenfalls eine gewaltige Überzeugungskraft, die auch Johann Wolfgang Goethe oder Ernst Theoder Amadeus Hoffmann faszinierte. Der eine übersetzte Benvenuto Cellinis blutvolle Lebensbeschreibung, der andere schuf aus ebendiesem Künstler mit viel Phantasie eine höchst einflussreiche Gestalt, den genialen Goldschmied René Cardillac. Dieser tritt in E.T.A. Hoffmans Kriminalerzählung "Das Fräulein von Scuderi" von 1819 als Künstler und Mörder auf, der seine Kunden umbringt, kaum haben sie ihn mit einem Kleinod aus seiner Werkstatt verlassen. Cardillac erträgt es nicht, seine Schöpfungen in fremden Händen zu wissen und geht dafür buchstäblich über Leichen.

Hoffmanns Figur überzeugte so sehr, dass sich eine Art von Cardillac-Komplex in den Köpfen der Leser festsetzte und Kollegen zu ähnlich spannenden Künstler-Verbrecher-Geschichten angeregt wurden. Die Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts traute dem Künstler, insofern er sich als Nicht- oder Anti-Bürger gerierte, sowieso fast alles zu, und so lösten Künstler-Verbrecher-Geschichten ein wohliges Grauen aus.

Mord und Motetten

Genie und Irrsinn waren seit der Antike ein berühmtes Paar, die Verbindung aus Genie und Verbrechen klang nun genauso überzeugend. Man erinnerte sich an die Renaissance-Künstler, die vielfach Mörder, Diebe, Schläger gewesen waren. Mit Don Carlo Gesualdo Fürst von Venosa gab es sogar einen Angehörigen des Hochadels, dessen Doppelmord an seiner betrügerischen Ehefrau und deren Liebhaber im Jahr 1590 einen kompositorischen Ex-tremismus ausgelöst hatte. Wie sonst wären seine frommen Motetten und schneidenden Klagelieder religiöser und weltlicher Art zu erklären?

Wer die Musik aus der Epoche Gesualdos kennt, weiß es freilich besser, schließlich hielt sich der Herzog als Komponist an die Satz- und Harmonieregeln, steigerte aber die Mittel und massierte sie bisweilen im Übermaß. Hochberühmte Kollegen wie Claudio Monteverdi schätzten ihn jedenfalls sehr.

Verbrecherische Künstler begegnen einem in den Künsten und in den Medien häufiger als in der Realität. Rubens, Raffael oder Rembrandt schufen ja nicht nur, die drei schufteten geradezu - und hatten gar keine Zeit für Eskapaden oder Gräueltaten. Gryphius, Grillparzer oder Grass schrieben und schrieben. Von Kapitalverbrechen keine Spur. Selbst ein Genie wie Quentin Tarantino verzweifelte wohl an dem Auftrag, etwa Friederike Mayröckers Leben, oder das von Gerhard Richter oder von Philip Glass zu verfilmen: schlicht zu langweilig, zu wenig Abenteuer, zu normal.

Medien interessiert das nicht. Sie widmen sich seit zweihundert Jahren lieber dem Phänomen "Kunst und Verbrechen" und tragen allerlei Gerüchte zusammen, woran allerdings auch Kollegen Anteil haben. Nehmen wir den Fall des bildenden Künstlers und Autors Thomas Griffiths Waine-wright (1794-1847): Dem Dandy und angeblichen Doppel- oder Nochvielmehr-Mörder widmeten Thomas de Quincey, Charles Dickens und Oscar Wilde kunstvolle Texte. Letzterer porträtierte ihn lange nach dessen Ableben in einem Essay mit dem schönen Titel "Pen, Pencil, and Poison".

Wilde beschreibt Wainewright mit so viel Verständnis und Bewunderung, dass man an vielen Stellen den Eindruck hat, er schreibe über sich selbst. Besonders bemerkenswert, dass Wilde der Straffälligkeit Wainewrights eine positive Seite abgewinnt: "Seine Verbrechen scheinen eine wichtige Wirkung auf seine Kunst gehabt zu haben. Sie fügten seinem Stil eine starke Individualität hinzu, eine Qualität, die seinem Frühwerk ohne Zweifel fehlt."

Ehe jetzt Nachwuchsautoren auf die Idee kommen, ihren Stil mit Hilfe von Giftmorden zu verbessern, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Wainewrights Verurteilung zu lebenslanger Verbannung in die Strafkolonie von Van Diemens Land, wo er nach Jahren begnadigt wurde und bald danach verbittert starb, bloß auf Betrug und Urkundenfälschung beruhte, die noch dazu nur sein eigenes Geld betrafen. Oscar Wildes Thesen speisten sich aus fragwürdigen Quellen. Ein Mörder war Wainewright wohl trotzdem, aber weder ein verurteilter, noch ein Serientäter, wie ihn spätere Biographen und Journalisten zunehmend dämonischer beschrieben. Wenn’s der Unterhaltung dient und der Verbrecherkünstler sich nicht mehr wehren kann, kennt man wenig Rücksicht.

Neben den Malern, Autoren, Komponisten und Musikern, die aus ihrer Laufbahn heraus Straftäter wurden, gibt es auch solche, die nach ihren Straftaten zu Künstlern wurden, indem sie etwa während der Strafzeiten im Gefängnis zu einem Stoff fanden. Der Mörder, Bankräuber und Autor Henri Charrière (1906-1973) ist solch ein Fall, zumal nur ein einziges Buch von ihm berühmt wurde, dafür ein internationaler Bestseller: "Papillon". Kurioserweise provozierte ihn erst eine Kollegin im Doppelsinn zu seinen gekonnten Aufzeichnungen.

Charrière fällt das Buch "L’Astragale" der jungen Albertine Sarrazin (1937-1967) in die Hände, und als er im Klappentext liest, dass über hunderttausend Exem-plare davon verkauft wurden, beschließt er, mindestens ebensoviel abzusetzen und es der "Göre", wie er schreibt, zu zeigen. An Sarrazins Kunst, die u.a. Rocksängerin Patti Smith beeinflusste, wird Charrière nie heranreichen, ihre Auflage dafür leicht übertreffen. Auch Jean Genet (1910-1986) wäre zu nennen, dessen viele Aufenthalte in Jugendheimen und Strafanstalten ihn lebenslang beeinflussten, auch wenn er als Schriftsteller in seiner Stoffwahl weit über diese Erfahrungen hinausging.

Bildung im Gefängnis

Ein exemplarischer Fall ist Norio Nagayama (1949-1997), der nach vier im Alter von 19 Jahren verübten Morden im Gefängnis eine Art Bildungsschub bekam und mit großem Fleiß und wachsendem Erfolg bei Publikum und Kritik begann, Gedichte, Prosa und Essays zu schreiben, großteils autobiographisch, dann künstlerisch freier, und schließlich auch einen utopischen Roman. Woher dieser Wandel eines zuvor an Literatur und Kunst uninteressierten Kleinkriminellen und vagabundierenden Jugendlichen kam, der sich Resozialisierungsangeboten immer wieder verweigerte, weiß bis heute niemand. Nach 28 Jahren in Haft und vielen Prozessen, in denen die Todesstrafe erst ausgesprochen, wieder aufgehoben, dann erneut in Kraft gesetzt wurde, richtete man ihn 1997 hin.

Dasselbe Schicksal hätte der Kriminalautorin Anne Perry (geboren 1938) gedroht, wenn nicht kurz zuvor in Neuseeland die Todesstrafe für Minderjährige abgeschafft worden wäre. Ihr Mord, den sie im Alter von 15 mit einer gleichaltrigen Freundin an deren Mutter verübt hatte, provozierte die Öffentlichkeit Neuseelands im Jahr 1954 ganz besonders.

Einer der Hintergründe für die brutale Tat waren exzessive Tagträumereien in Wort und Schrift, denen sich die beiden Mädchen hingaben: "selbstvergottende" Gedichte, blutige Fantasiewelt-Epen, Ansätze zu Drehbüchern, die sie in Hollywood mit Stars wie Orson Welles verfilmen wollten. Ein wahnhaftes Zweier-Paralleluniversum, das sie bis hin zu Mordphantasien steigerten.

Nach Jahren der Haft und einer Namensänderung von Juliet Hulme in Anne Perry versuchte die junge Frau jahrelang vergeblich, im bürgerlichen Leben Fuß zu fassen. Erst als sie Mormonin wurde und sich kurz darauf hochdiszipliniert dem Schreiben widmete, kam sie zur Ruhe - und nach einigen Jahren zu Ruhm und Reichtum: und zwar mit dem Schreiben von Krimis. Nur wenige Vertraute wussten, dass sie die jugendliche Mörderin war, deren Geschichte inzwischen in Neuseeland von Peter Jackson unter dem Titel "Heavenly Creatures" verfilmt worden war. Als der Streifen 1994 in die Kinos kam, kam auch die Wahrheit über Anne Perry ans Licht.

Dass sie und Sarrazin zu den wenigen Künstlerinnen & Verbrecherinnen in Personalunion gehören, hat wohl hauptsächlich damit zu tun, dass es über Jahrhunderte hinweg kaum Künstlerinnen geben durfte, und wer sich einmal durchsetzte, diese rare Chance nicht gleich wieder gefährdete. Dass Frauen generell seltener Kapitalverbrechen verüben, durchaus statistisch erwiesen, kommt hinzu.

Manche Straftaten verüben Künstler mit dem erklärten Ziel der Erregung öffentlichen Ärgernisses, etwa durch eine Nackt-Performance. Oder es gibt bei Kunstaktionen Verstöße gegen das Versammlungsverbot durch einen inszenierten Flashmob oder Eigentumsdelikte wie das Bemalen besetzter Häuser. Man kann lange diskutieren, wo dabei die Kunst aufhört und das Verbrechen beginnt. Die Grenze eindeutig überschritten hat der wegen seiner radikalen Bilder, aber auch wegen seiner Farb-, Blut- und Ausscheidungsorgien bekannte Aktionskünstler Otto Muehl (1925-2013), der in seiner Kunstkommune Minderjährige manipulierte, demütigte, traumatisierte, sexuell missbrauchte und mit Drogen versah, was ihm 1991 eine Verurteilung zu sieben Jahren Haft einbrachte.

Fälscher als Komödiant

Verurteilt wurde auch der Maler Wolfgang Beltracchi (geboren 1951), aber nicht wegen Bilder-, sondern wegen Urkundenfälschung! Die Signaturen auf den nachgeahmten Gemälden erfüllten diesen Straftatbestand. Ob seine eigenen Werke Kunst im emphatischen Sinne sind? Eher schon. Ob er damit ebenso berühmt geworden wäre wie mit den Fälschungen? Eher nein. Ob er ein Könner ist? Keine Frage! Dazu eine Art Entertainer und Komödiant, der seine Auftritte genießt: zuerst im Gerichtssaal, dann in Interviews, schließlich in Dokumentarfilmen oder der fünfteiligen 3sat-Serie "Der Meisterfälscher. Beltracchi porträtiert. . ." Vor laufender Kamera werden etwa Christoph Waltz im Stile Max Beckmanns, Harald Schmidt in der Manier von Otto Dix oder Daniel Kehlmann in der "Handschrift" von Giorgio De Chirico gemalt.

Dass die meisten diesem Fälscher schadenfroh bis amüsiert zusehen und sich über seine Erfolge im Täuschen des Kunstmarkts hämisch mitfreuen, hat wohl damit zu tun, dass man in diesem Bereich Arroganz, Scharlatanerie, Großmannssucht und Gier nicht ganz zu Unrecht vermutet. Ein wenig Neid, dass man sich zwar einen Beltracchi, aber keinen Max Ernst leisten kann, mag eine zusätzliche Rolle spielen.

Rolf-Bernhard Essig und Gudrun Schury leben als Schriftsteller, Kolumnisten und Sachbuchautoren in Bamberg (D). Soeben ist von ihnen erschienen: "Schlimme Finger. Eine Kriminalgeschichte der Künste von Villon bis Beltracchi". C. H. Beck Verlag, München 2015, 304 Seiten, 14,95 Euro.