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Krise in Belgien und Reformvertrag

Von Waldemar Hummer

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Waldemar Hummer ist Universitätsprofessor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Foto: privat

Die gegenwärtige Verfassungskrise in Belgien könnte die geplante Unterzeichnung des Reformvertrages am 13. Dezember in Lissabon zum Scheitern bringen. | An alles hatten die Euro-Skeptiker gedacht, nur nicht daran, dass die aktuelle Verfassungskrise in Belgien den auf der Regierungskonferenz 2007 fixierten Termin für die Unterzeichnung des Reformvertrages am 13. Dezember in Lissabon scheitern lassen könnte. Man verzettelte sich vielmehr mit juristischem Kleinkram, wie etwa der Diskussion, ob der Europäische Rat, der seine formellen Tagungen in Brüssel abzuhalten hat, seine traditionelle Dezembertagung ausnahmsweise nach Lissabon verlegen könnte, um dort die Unterzeichnung des Reformvertrages als "Vertrag von Lissabon" vorzunehmen.


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Sollte es tatsächlich zu dem Treffen der Staats- und Regierungschefs in Lissabon kommen, müssten - auf belgisches Drängen hin - die Delegierten am frühen Morgen nach Lissabon fliegen und am Nachmittag wieder nach Brüssel zurückkehren, um an der abendlichen Eröffnungssitzung des nun formell einberufenen Europäischen Rates teilnehmen zu können.

Vertragsunterzeichnung "laufendes Geschäft"?

Die wahre juristische Problematik liegt aber ganz anderswo. Am 30. Oktober 2007 waren 149 Tage (!) nach den Parlamentswahlen in Belgien vergangen, ohne dass die Regierungsverhandlungen, mit denen der Wahlsieger Yves Leterme betraut wurde, zu einem konkreten Ergebnis geführt haben. Es gelang dem Christdemokraten nicht, sich mit den Siegerparteien auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu einigen.

Wenngleich sich Leterme erklärte, dass gut 80 Prozent des neuen Regierungsprogramms akkordiert seien, so vergaß er doch hinzuzufügen, dass eben die letzen 20 Prozent die entscheidende Hürde darstellen, für deren Überwindung - wenn überhaupt - er nach eigenen Aussagen noch mehrere Wochen benötigen werde. Es bleiben ihm nur mehr zwei Alternativen, nämlich einen letzten Kraftakt zu versuchen, aufgrund dessen die Christdemokraten mit den Liberalen und den Sozialisten eine Regierung der nationalen Einheit bilden oder den Regierungsbildungsauftrag zurückzulegen bzw. in Verhandlungen über die Bedingungen einer Teilung des Landes einzutreten. Damit stellt sich aber eine ganz grundlegende juristische Frage. Die vor nunmehr fünf Monaten zurückgetretene belgische Regierung ist verfassungsmäßig nur mehr in der Lage, "laufende Geschäfte" (affaires courantes) zu erledigen, da ihr die politische Legitimität fehlt, über die nur eine im Amt befindliche Regierung verfügt, die dem Parlament gegenüber politisch verantwortlich ist und durch ein Misstrauensvotum abberufen werden kann. Sollte in Belgien bis zum 13. Dezember keine neue Regierung ernannt worden sein, erhebt sich die Frage, ob die Unterzeichnung des "Vertrages von Lissabon" noch zu den "laufenden Geschäften" der zurückgetretenen Regierung zählt oder nicht.

Was unter "laufenden Geschäften" zu verstehen ist, ist unklar und bestimmt sich nach dem jeweils ausgebildeten Verfassungsgewohnheitsrecht. Im Allgemeinen sind darunter drei Situationen zu verstehen: (1) die bloße Erledigung der täglich (routinemäßig) anfallenden Agenden; (2) die (bloße) Fortführung bereits früher begonnener (wichtigerer) Geschäfte sowie (3) die Erledigung dringender Agenden zur Abwehr sonst dem Staatswesen drohender Gefahren. Einschlägig wäre in unserem Fall lediglich die Variante (2), falls man die Unterzeichnung des Lissaboner-Vertrages nur als logische Konsequenz des bereits früher eingeleiteten Verfahrens zur Revision der Gründungsverträge verstehen würde. Dies ist aber aus völkerrechtlicher Sicht keineswegs zwingend. Im Grunde hätte dies die bloß geschäftsführende belgische Regierung aber schon zu Beginn der Regierungskonferenz im Juli 2007 wissen müssen.