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Krise mit ungewissem Ende

Von Piotr Dobrowolski

Europaarchiv

Eskalation des Machtkampfes nicht ausgeschlossen. | Pro-westliche Kräfte sprechen von Stimmenkauf. | Internationale Gemeinschaft um Mäßigung bemüht. | Kiew. Mit hektischer Betriebsamkeit reagierte Kiew gestern, Dienstag, auf die Auflösung des Parlaments durch Präsident Wiktor Juschtschenko. Während im Parlament und in der Präsidentenkanzlei eine Krisensitzung die andere jagte, demonstrierten nur wenige Straßenzüge von einander entfernt Gegner und Unterstützer der Parlamentsauflösung.


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Zumindest die Gegner richteten sich dabei gleich auf ein längeres Bleiben ein. Am Nachmittag war ihre Zeltstadt nahe des Parlaments bereits auf mehr als 200 Zelte angewachsen: dazwischen zwei Notarztwägen und einige Mitglieder der Miliz-Sondereinheit Berkut. Ob die Milizionäre mitdemonstrieren oder für Ordnung sorgen sollten, war zunächst nicht ganz klar. Umso eindeutiger gaben sich dafür die Demonstranten: "Wir sind hier, um die Ukraine vor einem Staatsstreich des Präsidenten zu schützen!"

Korrupte Delegierte?

Die Meinungen darüber, ob Präsident Wiktor Juschtschenko das Recht hatte, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen für den 27. Mai auszuschreiben, gehen in der Ukraine weit auseinander. Der Präsident habe es tun müssen, denn die pro-russiche Parlamentsmehrheit um Premier Wiktor Janukowitsch war drauf und dran, mit Bestechung und Stimmenkauf die Zwei-Drittel-Mehrheit zu erreichen und hätte dann selbst Verfassungsgesetze ändern können.

Das Parlament sei legal gewählt und repräsentiere den Willen des Volkes, es bestehe daher kein Anlass für seine Auflösung, argumentieren hingegen die Anhänger von Premier Janukowitsch. Die von ihm geführte Koalition aus der Partei der Regionen, Sozialisten und Kommunisten will die Parlamentsauflösung daher nicht zur Kenntnis nehmen. "Bis das Verfassungsgericht entschieden hat, ob die Auflösung legal ist oder nicht, arbeiten wir weiter", sagt die Fraktionschefin der Partei der Regionen, Raisa Bogatyrowa.

"Sollen sie nur weiter im Parlament sitzen. Sie haben keinen Einfluss mehr. Der Wahlkampf für die Neuwahlen hat bereits begonnen", kontert die eigentliche Triebfeder der Parlamentsauflösung und Ikone der orangen Revolution von 2004, Julia Timoschenko. Sie hat in den vergangenen Tagen Präsident Juschtschenko immer wieder zur Auflösung des "verfassungswidrigen" Parlaments gedrängt.

Noch wird der Konflikt zwischen dem orangen Block um den Präsidenten Juschtschenko und dem weiß-blauen Block um Premier Wiktor Janukowitsch verbal ausgetragen, doch der enge Janukowitsch-Vertraute Taras Tschornowil warnt: "In den nächsten Tagen kann sich die Situation dramatisch zuspitzen. Unsere Anhänger sind bereits mit Bussen in die Hauptstadt unterwegs."

Angst vor Gewalt

Wie sich im Falle einer Eskalation die ukrainischen Sicherheitskräfte verhalten würden, ist nicht eindeutig. Denn auch hier herrscht eine Pattstellung zwischen Präsident und Premier. Präsident Juschtschenko kann auf die Staatssicherheit und das Militär zählen, Premier Janukowitsch wiederum kann mit der Unterstützung des Innenministers und somit auch mit den berüchtigten Sondereinheiten Berkut rechnen.

Ein Szenario, das den Einsatz von Militär und Miliz oder gar deren Kämpfe miteinander notwendig machen würde, scheint aber unwahrscheinlich. Die meisten Beobachter in Kiew gehen davon aus, dass Premier Janukowitsch nach einigen Tagen des Protests doch die Neuwahlen akzeptieren wird.

Das aus zweierlei Gründen: zum einen dürfte seine Partei dabei erneut gewinnen, zum anderen aber, weil die Hintermänner von Janukowitsch, die Oligarchen aus Donezkbecken, offenbar absolut nicht an einer Eskalation interessiert sind. In den von ihnen kontrollierten ukrainischen Medien waren am Dienstag jedenfalls keinerlei Protestaufrufe festzustellen.

EU "beobachtet"

Um Mäßigung war gestern auch die internationale Gemeinschaft bemüht. Nachdem Juschtschenko in Kiew Gespräche mit Vertretern der Europäischen Kommission geführt hatte, meldete sich EU-Außenbeauftragter Javier Solana zu Wort. Man sei mit den Hauptakteuren in Kontakt und beobachte die Situation, wolle sie aber nicht kommentieren, teilte Solanas Sprecherin mit.

Aus der europäischen Position der Zurückhaltung scherte lediglich Polen aus. Der polnische Präsident hat noch am Vormittag des gestrigen Dienstag seine Unterstützung für Wiktor Juschtschenko und die Parlamentsauflösung kundgetan.

Was diesmal nicht nur ein Zeichen der notorischen polnischen Eigenwilligkeit innerhalb der EU war, sondern auch historisch bedingt: schon 2004 hat Polen neben den USA die orange Revolution massiv unterstützt. Nicht zufällig sprach das Lager des heutigen Premiers Janukowitsch damals beleidigt von einem "amerikanisch-polnisch inspirierten Umsturz."