Im Verhältnis zwischen Bürgern und Politik ist Sand im Getriebe. Ein Gespräch.
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"Wiener Zeitung": Unzufrieden zu sein, ist in der Regel das Privileg der Opposition. Spätestens dann, wenn sich Regierungsparteien Gedanken darüber machen, wie das Verhältnis zwischen Bürgern und Politik verbessert werden kann, scheint Feuer am Dach zu sein. Wie bewerten Sie als Rechtsphilosoph den Zustand der österreichischen Demokratie?Stefan Hammer: Krisen gehören zur Demokratie, weil so Strukturen infrage gestellt, Türen für Innovationen geöffnet werden. Demokratie bedeutet institutionalisierte Kritik. Für mich kennzeichnen drei Charakteristika die Situation: Erstens, die gewachsene Distanz zwischen Repräsentierten und Repräsentanten, die oft als illegitime Privilegierung bestimmter Interessen erfahren wird. Zweitens, eine allgemeine Skepsis in Bezug auf die Gestaltbarkeit unserer Zukunft; dies ist allerdings ein Wesenszug unserer Zeit geworden. Drittens, eine gewisse Ortlosigkeit demokratischer Prozesse. Dass ein Nationalstaat nicht länger ein geschlossenes Entscheidungssystem ist, wird heute so deutlich wie nie zuvor. Globale und transnationale Entwicklungen führen dazu, dass nur noch Sachzwänge verwaltet und exekutiert werden. Die behauptete Alternativlosigkeit vieler Entscheidungen im Hinblick etwa auf die Finanz- und Schuldenkrise in Europa führt wiederum zu großem Frust bei den Bürgern, die sich jeglicher Mitentscheidungsmöglichkeit beraubt sehen.
Gibt es tatsächlich keine Alternativen zum derzeitigen Kurs, wie uns die meisten Regierungen und Parteien glauben machen wollen? Kritiker behaupten ja, mögliche Alternativen würden bewusst im öffentlichen Diskurs ignoriert.
Die Alternativlosigkeit wird als Konsequenz der Sachzwänge wahrgenommen. In der Theorie wird dieses Unbehagen bereits seit einigen Jahren formuliert: Demnach hat unsere Zeit ihre Zukunftsoffenheit weitgehend verloren; es gibt bestimmte existenzielle Risiken, bei denen es nicht mehr um deren Beseitigung geht, sondern nur noch darum, deren Folgen so weit wie möglich hinauszuschieben. Das Paradebeispiel hierfür ist der Klimawandel, aber auch bei den Risiken des Finanzkapitalismus geht es nur um eine Minimierung der Folgen, nicht um einen grundsätzlichen Systemwechsel zur Lösung des Problems.
Hat sich nur unser Bewusstsein verändert oder doch eher die Welt, in der wir leben?
Schwer zu sagen, weil gesellschaftliche Realität sich nicht trennen lässt vom gesellschaftlichen Bewusstsein davon. Auf jeden Fall ist es so, dass uns unsere Hilflosigkeit jetzt erst wirklich bewusst wird. Natürlich könnte man auch sagen, es war schon immer so, dass Politik die Zukunft nicht frei steuern kann, aber jetzt schlägt diese Sicht mit Wucht auf das politische Bewusstsein durch; viele Erwartungen an das demokratische System wurden enttäuscht. Das hat aber auch damit zu tun, dass sich unser Verständnis von Demokratie verengt hat.
Inwiefern?
Wir haben verlernt, die bloße Mitwirkung am Entscheidungsprozess als Wert an sich, als Selbstzweck zu empfinden. Stattdessen wird Demokratie darauf verengt, dass die Politik den Bürgern Alternativen zur Glücksoptimierung vorlegt, über die die Bürger je nach persönlicher Interessenlage abstimmen. Jetzt, in Krisenzeiten, macht sich Enttäuschung darüber bereit, weil die Demokratie ihr Versprechen von einem besseren Leben nicht einlösen kann. Der Mangel an Alternativen verstärkt diese Enttäuschung noch. So kommt es, dass sich immer mehr Menschen die Frage nach dem Sinn einer solchen Demokratie stellen, die ihnen keine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bringt.
Ist diese Enttäuschung nicht logisch angesichts der Tatsache, dass jede Herrschaftsform, also auch die Demokratie, zunächst danach beurteilt wird, inwiefern dieses zu einer Verbesserung der eigenen Lebenschancen führt? Der Traum vom idealen Bürger entspricht in der Realität eben nur selten dem Wunschbild.
Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778; Anm.) hat diese Idealvorstellung zweifellos am pointiertesten formuliert, indem er die politische Partizipation zugleich zum moralischen Entwicklungssprung des Einzelnen erhöht. Für ihn setzt Mitwirkung ein Ethos voraus, das erst die Bildung eines Allgemeinwillens ermöglicht. Dieser wiederum ist ein normatives Konzept, das mehr ist als die Summe aller Meinungen. Gemessen an der Wirklichkeit war das natürlich immer schon unrealistisch, und unter modernen Bedingungen ist es noch unrealistischer geworden. Das ändert nichts daran, dass wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir bei den Bürgern wieder das Bewusstsein für den Selbstzweck der Demokratie als Ort politischer Freiheit schärfen können. Es kann und darf nicht sein, dass wir unsere Wertschätzung für Demokratie ständig davon abhängig machen, welchen Schwierigkeiten wir gegenüberstehen; nur weil wir in größeren Schwierigkeiten stecken, heißt das nicht, dass die Demokratie nichts wert ist, weil auch sie keine befriedigende Antwort auf die Probleme findet.
Wie könnte ein solcher Lernprozess für die Bürger ausschauen?
Derzeit erleben wir die Entwicklung, dass vor lauter Enttäuschung über die triste Realität gleich auch die der Demokratie zugrunde liegende Idee politischer Freiheit verabschiedet wird. Mehr direkte Demokratie könnte vielleicht wieder ein Bewusstsein für diese Idee wecken. Freiheit kann man nur lernen, indem man sie praktiziert. Die Bürger müssen wieder ein Gefühl dafür entwickeln, was es heißt, an Sachentscheidungen mitzuwirken; hierin, und nicht bloß in der Auswahl von Personen, liegt für mich die Essenz von Demokratie.
Mehr direkte Demokratie ist allerdings umstritten, manche fürchten einen Bruch mit dem System parlamentarischer Repräsentation. Und wie kann verhindert werden, dass direkte Demokratie nicht von den Parteien für eigene Zwecke instrumentalisiert wird?
Wer nur alle vier, fünf Jahre abstimmen kann, hat nicht das Gefühl, an inhaltlichen Entscheidungen mitwirken zu können. Und was den Schutz vor Missbrauch angeht, so ist das eine Frage des Designs: Wenn in einer Situation, die generell unter dem Vorwurf von Bürgerferne leidet, nur punktuell direktdemokratisch abgestimmt werden kann, dann konzentriert sich die Politikverdrossenheit auf diese Einzelthemen. Wenn Abstimmungen Routine wären, hätte das Thema Parkpickerl in Wien wohl kaum so emotionalisiert.
Kritiker führen auch die Überforderung der Bürger angesichts komplexer Fragen als Argument gegen mehr direkte Demokratie an.
Das betrifft nicht die Bürger alleine, auch viele Abgeordnete sind inhaltlich oft überfordert. Es ist aber nicht das Ziel repräsentativer Wahlen, die besten Experten ins Parlament zu holen. Und in der aktuellen Eurokrise wird deutlich, dass auch Experten völlig unterschiedliche Standpunkte einnehmen.
Aktuell erleben wir die strukturelle Überforderung, ja Aushöhlung der nationalen Demokratie; Parlamente können allenfalls im Nachhinein Entscheidungen abnicken, die zuvor von den Regierungen auf europäischer Ebene getroffen wurden. Kann eine europäische Demokratie diese Lücke wieder schließen?
Auf absehbare Zeit wohl eher nicht, es fehlt eine in sich geschlossene europäische Öffentlichkeit. Und nicht nur, dass es eine solche transnationale europäische Öffentlichkeit noch nicht gibt, sie wird auch noch von den sich verstärkenden Renationalisierungstendenzen in vielen Staaten konterkariert. Zudem wächst die Entsolidarisierung zwischen den verschiedenen Bevölkerungen in Europa ebenfalls.
"Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus": So lautet der erste Artikel der Bundesverfassung. Wie würden Sie erstsemestrigen Studenten die Essenz dieses Satzes erklären?
Er bedeutet zunächst einmal in der Tradition Hans Kelsens (1881 bis 1973; Anm.), dass politische Entscheidungen auf eine Art zustande kommen müssen, die sich auf eine "Ermächtigung" durch das Volk zurückführen lässt. In einem weiteren Sinn geht es aber darum, dass dieses "Recht" nicht gegen den Allgemeinwillen verstoßen darf, es darf also weder Minderheitenrechte beschränken noch sonst die Garantien gleicher Freiheit für alle verletzen. Das gilt selbstverständlich auch für die direkte Demokratie. Das Demokratieprinzip darf nicht so verstanden werden, dass Sachentscheidungen immer der Mehrheitsmeinung der Bürger entsprechen müssen. Umgekehrt bedeutet es aber auch nicht, dass in einer repräsentativen Demokratie sämtliche Entscheidungen bei den Repräsentativorganen monopolisiert sein müssen.
Wenn Politik nicht mehr durch die Köpfe der Bürger gehen kann und - zumindest der institutionellen Möglichkeit nach - von ihnen korrigierbar ist, dann wird sie nach den Worten der Väter der US-Verfassung dem Wesen nach "tyrannisch".
Zur Person
Stefan Hammer,geboren 1957 in Linz, studierte anfangs Arabistik und Rechtswissenschaft; Abschluss in Jus 1980, habilitierte sich Hammer anschließend im Bereich
Rechtsphilosophie; derzeit lehrt und forscht er am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.