Um 2.30 Uhr erhielt Dr. Mike Ryan jenen Anruf, der die Gesundheitsbehörden der Welt in einen nie da gewesenen Alarmzustand versetzen sollte. Am anderen Ende der Leitung war die Regierung von Singapur - mit alarmierenden Nachrichten: Ein womöglich an der gefährlichen Lungenkrankheit SARS erkrankter singapurischer Arzt sei auf dem Heimflug von New York. Die Sorge vor einer weltweiten Ausbreitung setzte bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen bis dahin unerprobten internationalen Krisenplan in Gang.
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"Wir hatten den Namen, aber keine Flugnummer, nicht einmal die Fluggesellschaft", erinnert sich WHO-Arzt Ryan, dessen Name auf der Rundrufliste für SARS-Notfälle ganz oben stand. Mit einigen weiteren Telefonaten fanden die Krisenmanager heraus, dass der singapurische Arzt auf dem Weg nach Frankfurt am Main war. Als er dort am 15. März eintraf, wartete der deutsche Quarantänedienst auf ihn und seine Ehefrau.
"Wir haben zwar schon vorher die Ausbreitung neuer tödlicher Krankheiten wie Ebola erlebt", sagt der WHO-Chef für Infektionskrankheiten, Dr. David Heyman. "Aber sie haben sich noch nie international ausgebreitet." Der 57 Jahre alte Amerikaner war schon 1976 Mitglied eines Expertenteams zur Erforschung des ersten Ebola-Ausbruchs im damaligen Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo). "In diesem globalen Ausmaß haben wir noch nichts Vergleichbares gesehen", berichtet Heyman, der im US-Zentrum für Seuchenkontrolle (CDC) in Atlanta arbeitet. "Das ist eine große Herausforderung. Wenn wir unser heutiges Krisensystem beim Auftauchen von Aids schon gehabt hätten, hätte sich die Krankheit möglicherweise nie so weit ausgebreitet."
Bei der WHO herrschte ohnehin schon erhöhte Besorgnis wegen der ersten aus Asien gemeldeten Fälle des Schweren Akuten Atemwegssyndroms (SARS). Man befürchtete, dass der Krankheit ein bisher unbekanntes Grippevirus zu Grunde liegen könnte. Neue Grippeformen kommen häufig aus Asien, und viele Experten warnen seit langem vor einer unweigerlich bevorstehenden neuen Epidemie. Ein Furcht erregendes Szenario: Der letzten weltweiten Grippeseuche, die 1918 in Spanien ausbrach, fielen mindestens 20 Millionen Menschen zum Opfer.
Noch am jenem Samstagmorgen rief Ryan seine wichtigsten Kollegen zusammen, und bis zum Nachmittag war im Konferenzsaal der WHO in Genf ein 14-köpfiges Krisenteam versammelt. Ihre erste Aufgabe war es, die neue Krankheit zu definieren, Empfehlungen an die Gesundheitsbehörden sowie eine Erklärung für die Öffentlichkeit vorzubereiten.
Schon nach wenigen Stunden gab die UNO-Behörde die erste weltweite Reiseempfehlung ihrer Geschichte heraus, in der sie SARS zur globalen Gesundheitsgefahr erklärte und vor den Symptomen der Krankheit warnte: Fieber, Husten und Atembeschwerden. "Ich habe in der Nacht darauf nicht sehr gut geschlafen", erinnert sich Heyman. "Ich musste mich immer wieder fragen, ob wir auch wirklich das Richtige getan haben."
Etwa zwei Jahre lang hat die WHO an ihrem Notfallplan gearbeitet. Plötzlich musste es sich früher bewähren als erwartet. "Das war eine echte Feuerprobe", meint Mike Ryan. "Noch vor einigen Wochen hätte ich noch gesagt: Ja, wir sind gut vorbereitet, das hat sich schon bei anderen Ausbrüchen gezeigt. Aber in Wahrheit waren die vergangenen Tage erst die große Nagelprobe. Und es hat funktioniert."
Die WHO richtete Krisenbüros in unterschiedlichen Zeitzonen ein, um einen 24-Stunden-Notdienst gewährleisten zu können. Die Mitarbeiter arbeiteten rund um die Uhr. Am 17. März richteten die Experten ein "virtuelles Labor" ein, in dem seither das Fachwissen von elf führenden Labors aus neun Staaten gesammelt wird. "Das ist das erste Mal, dass ein globales Netzwerk von Labors Informationen, Proben und Bilder austauscht", so WHO-Virologe Dr. Klaus Stohr. "Über Nacht gab es angesichts eines weltweiten Notfalls plötzlich keine Geheimnisse mehr, keinen Neid und kein Konkurrenzdenken."