Forschende sehen Verantwortungslosigkeit: Übersterblichkeit "bewusst in Kauf genommen".
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Keine Masken, keine Lockdowns, Schulen, Restaurants und Geschäfte weitgehend geöffnet: Im Pandemie-Management verfolgt Schweden einen liberalen Weg. Ein Forschungsteam aus Epidemiologie, Medizin, Geschichte, Politologie und Menschenrechten beschuldigt die verantwortlichen Politiker, mit dem Ziel der Herdenimmunität zu Beginn der Pandemie Übersterblichkeit durch Covid-19 "bewusst in Kauf genommen" zu haben.
Während andere Länder in Europa ab Mitte März 2020 strenge Lockdowns verordneten, verbot Schweden zunächst bloß Versammlungen ab 500 Personen. Vor dem Hintergrund seines dezentralisierten Gesundheitssystems setzte das größte skandinavische Land auf Eigenverantwortung und Empfehlungen, nicht Verbote. Das Pandemie-Management übertrug die Regierung in Stockholm ihrem Chefepidemiologen Anders Tegnell und seinem Beraterstab in der Behörde für Infektionskrankheiten.
Die Bilanz laut dem Dashboard der Johns Hopkins Universität bis Dienstagnachmittag: Von zehn Millionen Schwedinnen und Schweden haben sich bisher insgesamt 2.481.736 mit Sars-CoV-2 infiziert, 18.189 von ihnen tödlich. In Österreich sind trotz dreier Lockdowns bisher 3.747.582 von neun Millionen Einwohnern an Covid-19 erkrankt, davon 15.706 tödlich. Und aktuell zählte Österreich allein vorige Woche 249.507 Neuinfektionen bei 274 Todesfällen und Schweden 6.049 neue Fälle bei 136 Toten. So weit die Zahlen.
Wie lässt sich ein mutationsfreudiges Virus richtig oder am besten managen? Diese Frage kann erst die Zukunft beantworten. Laut einem Bericht, der auf dem Portal des Fachmagazins "Nature" veröffentlicht wurde, existiert aber auf jeden Fall so etwas wie verantwortungsvolles Pandemie-Management - die Belegung der Intensiv-Betten etwa sei eine gute Kenngröße. Die Autoren um die Epidemiologen David Steadson und Nele Brusselaers treten häufig als Kritiker der schwedischen Strategie auf. Sie beschuldigen Stockholm, mit einer Art Laissez-Faire-Strategie, zumindest im Jahr 2020, Übersterblichkeit aus dem Ruder laufen gelassen zu haben, damit die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben keinen Schaden nehmen würden.
"Andere Positionen extrem"
An sich wäre das nordische Land laut den Autoren für Ernstfälle gerüstet. Seit der Gründung der Schwedischen Akademie 1739 hätte sich eine 280-jährige Tradition der Zusammenarbeit zwischen Politik, Behörden und Wissenschaft entwickelt, die in der Bevölkerung ein hohes Maß an Vertrauen genieße. "Doch 2020 waren die Todesraten durch Covid-19 zehn Mal so hoch wie im Nachbarland Norwegen, weil politische Entscheidungen willkürlich getroffen wurden", heißt es in dem Bericht. Mit ein Grund seien Umbesetzungen in der zuständigen Gesundheitsbehörde. "Dadurch fehlte Expertise. Man ignorierte wissenschaftliche Evidenz und zielte auf ,natürliche‘ Herdenimmunität zur Vermeidung des gesellschaftlichen Stillstands ab", schreiben Steadson, Brusselaers und Kollegen. "Die Bevölkerung wurde über Grundlegendes informiert, etwa, dass Sars-CoV-2 sich über die Luft überträgt, asymptomatische Infizierte Covid-19 verbreiten können und Masken schützen. Zugleich bezeichnete die Gesundheitsbehörde andere Positionen aus der Wissenschaft als extrem", lautet die Kritik.
Das Urteil fußt laut dem Team auf Vergleichen zwischen den Zielen der Pandemie-Strategie und deren Umsetzung. Statistiken, Berichte aus Gesundheits- und Pflegewesen, Reporte von Schwedens Regierung und von internationalen Behörden wie der WHO sowie wissenschaftliche Publikationen wurden ausgewertet und mit dem Fortkommen Schwedens verglichen. Die Forschenden sammelten E-Mails, Tagesordnungen von Sitzungen, Pressaussendungen und offene Briefe über Entscheidungsprozesse und die Zusammenarbeit Politik-Wissenschaft.
"Normalerweise mischt sich die Regierung in die Arbeit offizieller Behörden nicht ein. In Krisenzeiten sollte aber das Büro des Premierministers die Ministerien zusammenrufen, um einen Krisenstab zu gründen, denn die Behörde für Gesundheit hat nur operative Aufgaben", fassen die Autoren zusammen. "Das Krisenmanagement in den Ministerien funktionierte jedoch zumindest im ersten Corona-Jahr nicht. Und die Befugnisse der Gesundheitsbehörde waren zu wenig weitreichend, daher zeigte sich niemand direkt verantwortlich, selbst als in den Altenheimen reihenweise die Menschen starben", heißt es.