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Alte Wirtschaftsmodelle sind überholt - Vernunft des Marktes ist "Wunschbild".
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"Wiener Zeitung": Herr Hetzer, sind Sie ein Revoluzzer?
Wolfgang Hetzer: (lacht) Das hat mir meine Frau streng verboten. In diesem merkwürdigen Euphemismus klingt an, dass man denjenigen nicht ernst nimmt, weil er - vielleicht in Kenntnis der Unveränderlichkeit der Verhältnisse - rumnölt, aber nichts Entscheidendes bewirken kann. Das möchte ich natürlich nicht. Hätten Sie gefragt, ob ich ein Revolutionär bin: erst recht nicht. Die Tradition der Revolution ist, jedenfalls in Deutschland und Österreich, eine sehr dürftige.
Sie hegen Sympathie für einen Umsturz? Zitat: Womöglich mache erst die "Radikalisierung vieler Menschen eine Zukunft möglich" . . .
In "normalen" Zeiten, wie man sie sich wünscht, hat man eine Verfassung und geregelte Verfahren zur Willensbildung und für politische Entscheidungen. Das ist gut und richtig. Aber es gibt manchmal aufgeregte Zeiten und erregende Tatbestände - denken Sie an die Formulierung "Empört euch!" von Stéphane Hessel, die zum Zeichen der Zeit geworden ist. Das spricht insbesondere jüngere Leute an, die keine Lebenschancen haben, weil jeder Zweite arbeitslos ist. Wenn die Politik nicht in der Lage ist, die Voraussetzungen des sozialen Friedens zu schaffen, ist die Frage, ob die normalen Usancen im Politbetrieb ausreichen oder die Menschen nicht ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.
Glauben Sie denn nicht an die Lernfähigkeit der Politik?
Sie ist schon lernfähig. Von der Finanztransaktionssteuer über die Bankenunion bis zu den Rettungspaketen gibt es eine Reihe von Gesetzgebungsvorhaben, die diskutierenswert sind. Wenn das funktioniert, woran manche zweifeln, ist es gut. Wir haben aber systemische Probleme. In Zypern wird an Symptomen herumkuriert. Belässt man die grundsätzliche marktwirtschaftliche Ordnung - wenn es denn überhaupt ein Markt ist - im Zustand der Deregulierung, wird sich das Problem wieder stellen. Sogar der deutsche Finanzminister hat gesagt, eine weitere Krise wie 2007 und 2008 - die noch nicht vorbei ist - würde die demokratische Gesellschaftsordnung "berühren". Sprich, es würde sie beschädigen.
Sie formulieren äußerst drastisch; sehen "Vorboten blutiger Gemetzel" und Anzeichen von Kriegen und Bürgerkriegen. Ist da die Tonalität nicht um eine Oktave zu hoch?
Schauen Sie zurück auf die Geschichte. Manche erinnert unsere Zeit an 1913. Ernstzunehmende Leute vergleichen die Stimmung mit einem bevorstehenden militärischen Angriff. Natürlich steckt da viel Subjektivität drin. Österreich und Deutschland geht es ja auch relativ gut, dafür haben wir ein Nord-Süd-Problem. Es stimmt: Es gibt keine schwarzen Rauchsäulen in den Straßen, es stehen nicht die Panzer des Bundesheeres an den Ecken, es gibt keine patrouillierenden Militärs nach 22 Uhr und es gibt kein Ausgehverbot. Aber: Wir haben schon etwas wie einen Ausnahmezustand.
Inwiefern?
Es ist nicht das normale Prozedere, dass in Italien ein Ministerpräsident - Mario Monti - ins Amt gehievt wurde, der sich nicht auf demokratische Legitimation durch Wahl berufen konnte, sondern in einer Art halbsouveräner Entscheidung auf internationalen Druck als Experte geholt wurde.
Hebelt Ihrer Meinung nach die Notwendigkeit von "Troika-genehmen" Regierungen die Demokratie aus?
So weit würde ich nicht gehen. Aber es gibt bei Zypern sehr wohl Streit, ob die Absicht, die Sparer zu belasten, vom zyprischen Parlament in unangetasteter Souveränität beschlossen wurde. Wenn die griechische Presse die Kollegen der Troika als Besatzungskommission diffamiert, so ist das unangebracht. Wenn, dann hat die griechische Politik das Land in die Lage gebracht, dass es Hilfe braucht.
Sie kritisieren "Versagercliquen" in der Politik. Nicht wenige Menschen haben aber vom Klientelismus profitiert. Wo bleibt die Verantwortung derer, die diese Regierungen über Jahrzehnte gewählt haben?
Es gibt natürlich Wähler, die erwarten, von der Regierung Wahlgeschenke zu bekommen, und vergessen, dass ihnen irgendwann die Rechnung präsentiert wird. In Griechenland haben die Wähler von jeder Partei das Versprechen gehört, "Wenn du mich wählst, stelle ich dich in den Staatsdienst ein." Das schafft eine Atmosphäre der Verpflichtung und nährt den Verdacht, dass Korrumpierung zirkulär ist - dass jeder etwas vom anderen erwartet, bis man wieder am Anfang ist. Ich weiß nicht einmal, ob eine Revolution diesen Zirkel aus Inkompetenz und Korrumpierung brechen kann.
Was kann der Markt Ihrer Meinung nach? Was soll er dürfen?
Das ist eine lange Debatte. Die bisherigen Vorstellungen, wonach das Marktgeschehen quasi eine verkörperte und institutionalisierte Vernunft sei, sind jedenfalls schlicht falsch. Das ist ein Wunschbild, keine Realität.
Was ist dann die Alternative - Staatskapitalismus wie in China?
Eine hochaktuelle Frage. Können wir uns China als Modell vorstellen - ohne Gefährdung des sozialen Friedens? Die Bedingungen für Wanderarbeiter oder in Apple-Fabriken entsprechen wohl nicht gerade dem Leitbild des deutschen Grundgesetzes. Ich weiß nicht, ob es Vorbilder gibt. Wir können uns nicht mehr auf Manchester-Liberalismus oder albanischen Pseudosozialismus berufen. Subsistenzwirtschaft à la Afrika, sofern es sie noch gibt, ist wohl auch kein Leitbild für die Kärntner Straße. Die würde ziemlich anders aussehen, wenn wir Kühe gegen Schafe tauschen - vermutlich mit weniger Schmuckgeschäften. Vielleicht müssen wir einen dritten oder vierten Weg finden (neben Sozialismus, Kapitalismus, sozialer Marktwirtschaft, Anm.) Wir sind in einer völlig neuen Situation.
Zur Person Wolfgang Hetzer
Der Deutsche, geboren 1951, war als höchstrangiger Beamter in Berlin und Brüssel für den Kampf gegen Korruption, Geldwäsche und Organisierte Kriminalität verantwortlich.
Wolfgang Hetzer: Finanzkrieg. Angriff auf den sozialen Frieden in Europa. Westend Verlag 2013. 22,70