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"Kulinarische Pornografie" und die Hassliebe zum Essen

Von Eva Stanzl

Wissen

Das Wegwerfen von Lebensmitteln als Rache des Menschen an der Industrie.


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Wien. Eine äußerst florierende Sparte der Lichtbildkunst ist die Lebensmittelfotografie. Doch nicht immer lassen die Farbfotos von appetitanregenden Speisen Kochgelüste erwachen. "Immer weniger Menschen kochen zu Hause. Die Fähigkeit, kreativ Nahrungsmittel zu verarbeiten, ist hochgradig degeneriert", weiß Klaus Dürrschmid vom Institut für Lebensmittelwissenschaften der Universität für Bodenkultur (Boku) in Wien. Und: "Viele Kochbücher dienen dem rein visuellen Konsum als kulinarische Pornografie." Ein bunt appetitlich bestücktes Kochbuch-Regal reiht unter die Status-Symbole.

Essen ist Status und Macht - in gewissem Sinn gilt dieser Zusammenhang seit eh und je. Jedoch hatten wir noch nie so wenig Bezug zu unseren Lebensmitteln wie heute. Und noch nie haben wir so viel Nahrung so leichthin weggeschmissen. Warum tun wir das?

"Sobald es sich jemand leisten kann, viele Lebensmittel zu raffen, werden sie aufgetischt. Eine volle Tafel galt schon im Mittelalter als Demonstration von Einfluss und Reichtum. Kriegsherren, die viele Lebensmittel verzehren konnten, genossen Anerkennung", sagt Felicitas Schneider vom Institut für Abfallwirtschaft der Boku. Während der Rest der Bevölkerung von der Hand in den Mund lebte, aßen die Herrscher im 17. und 18. Jahrhundert üppigst. "Es gab Schau-Essen bei Hof, bei denen selbst die Dekoration aus Lebensmitteln bestand", so Schneider.

Die Qual der Wahl

Im Unterschied zu Supermarktketten, die offiziell abgelaufene Lebensmittel automatisch entsorgen, bekam früher das Personal die Reste und deren Reste bekamen die Armenhäuser. In der Monarchie erfreuten sich die "Schmauswaberln" großer Beliebtheit: Deren Wirtinnen kauften übrige Speisereste von der Tafel des kaiserlichen Hofes billig auf, um sie mitunter neu aufbereitet in ihren Gasthäusern preiswert anzubieten, während der Erlös zu Hof bedürftigem Personal zufloss. Freilich: Es fehlten Sozialhilfe und Penny-Märkte. Somit war somit die Notwendigkeit größer, nichts verkommen zu lassen. Doch heute fehlt es uns zunehmend am Bezug zur Nahrung.

"Wir haben uns emotional neutralisiert, ja psychisch entfremdet von unseren Nahrungsmitteln, weil diese seit den 1950er Jahren in unfassbarem Ausmaß industriell produziert werden und wir keine Ahnung haben, was dabei vor sich geht", sagt Dürrschmid. Das habe eine Art Hassliebe zum Essen zur Folge: "Einerseits schätzen wir es, dass wir so toll versorgt werden. Andererseits ist uns die Art der Erzeugung suspekt. Diese Ambivalenz erleichtert es uns, uns durch Wegwerfen an der Industrie zu rächen." In Österreich landet jeder fünfte Brotlaib im Müll.

Rückenwind erhält diese Vorgehensweise von der Angst vor Verdorbenem. Wenn etwas zu lange im Kühlschrank liegt, denken wir, wir könnten uns regelrecht vergiften, so Dürrschmid. Was ja auch sinnvoll sei - immerhin seien früher die Menschen an verdorbenem Essen gestorben.

Neue Strömungen wie Slow Food propagieren heute einen sorgsamen Umgang mit Nahrung. Die einzige echte Massentendenz macht der Ernährungsforscher jedoch in Fertigprodukten aus, "die gar nicht schlecht schmecken". Er sieht zudem eine "ernährungsgeschichtlich völlig neue Situation. Früher aß man, was es gab, heute gibt es das ganze Jahr alles. Wir haben keine Verhaltensalgorithmen, die uns helfen, mit dieser enormen Auswahl vernünftig umzugehen."