Soziologe Stephan Vopel erklärt, was unsere Gesellschaft zusammenhält.
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Wien. Was hält uns als Gesellschaft zusammen? Das hat über Jahrzehnte keinen interessiert, einfach weil sich die Frage gar nicht gestellt hat. Diese Selbstverständlichkeit hat sich spätestens mit dem Ende des West-Ost-Konflikts und der seitdem rasant fortschreitenden Globalisierung erledigt. Und die Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre haben die Frage nur noch einmal zugespitzt.
Vor diesem Hintergrund wurde zu Wochenbeginn und auf Einladung der Industriellenvereinigung unter der Überschrift "2033 - neue Perspektiven für gesellschaftlichen Zusammenhalt" darüber diskutiert, was uns zusammenhält. Stephan Vopel, Direktor und Studienleiter der Bertelsmann-Stiftung, lieferte das Impulsreferat. Die "Wiener Zeitung" traf ihn davor zum Interview.
"Wiener Zeitung": Was trennt unsere Gesellschaften?
Stephan Vopel: Ich kann nur beantworten, welche Faktoren den Zusammenhalt negativ beeinflussen. Das ist zum einen der Bereich soziale Ungleichheit. Hier gilt: je höher die Ungleichheit, desto niedriger der soziale Zusammenhalt. Dann kommt die Wahrnehmung von kulturellen Differenzen. Und schließlich gibt es noch die wahrgenommene Ohnmacht der Menschen, also das Gefühl, keinen Einfluss mehr auf die Gestaltung des Gemeinwesens zu haben.
Sie betonen bei Differenz und Ohnmacht deren subjektive Dimension. Heißt dies, dass beide besonders anfällig für Manipulation sind?
Es gibt offensichtlich verschiedene Narrative darüber, was in unseren Gesellschaften passiert. Und eine liberale Erzählung bestimmter Entwicklungen war für einige Gruppen nicht zufriedenstellend. Grundsätzlich zeigt sich aber: Entscheidend ist die Höhe des Bruttosozialprodukts. Je höher der Wohlstand, desto höher ist auch der Zusammenhalt, kein anderer Faktor hat einen ähnlich hohen Erklärungswert; erst mit Abstand folgt soziale Ungleichheit. Demgegenüber führen mehr Fremde in einem Land nicht zwingend zu geringerem Zusammenhalt.
Ihre Datenreihe endet 2012, die Flüchtlingswelle von 2015 und 2016 ist nicht erfasst. Seitdem bestimmt die Frage, wie sich kulturelle Differenz auf das Zusammenleben auswirkt, die Debatte.
Wir wissen, dass sich, jedenfalls in Deutschland, über die letzten beiden Jahrzehnte eine grundsätzliche Akzeptanz für die Zuwanderung von Fremden entwickelt hat. Gleichzeitig erwarten wir aber eine gewisse kulturelle Anpassung. Tatsächlich ist die Akzeptanz von Unterschieden geringer geworden.
Gibt es ein Rollenmodell, das ein möglichst hohes Ausmaß an Zusammenhalt garantiert?
So pauschal kann man das nicht sagen. Es gibt die skandinavischen Staaten, die hier sehr gut abschneiden und sich durch ein hohes Maß an Umverteilung auszeichnen. Die angelsächsischen Länder weisen einen ähnlich hohen Zusammenhalt auf, obwohl die Umverteilung gering ist. Ausschlaggebend sind die unterschiedlichen Narrative: In den USA ist jeder seines eigenen Glückes Schmied, in Skandinavien steht die Gesellschaft mehr in der kollektiven Verantwortung.
Bezugspunkt Ihrer Studie ist der Nationalstaat. In Europa ist der jedoch unter massivem Druck: Grenzen sind ebenso verschwunden wie Währungen, Regierungen können die Erwartungshaltungen ihrer Bürger kaum erfüllen.
Es gibt verschiedene Dimensionen des Zusammenhalts: die Beziehungen der Menschen untereinander, das Gefühl der Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und dann die Haltungen in Bezug auf soziales Verhalten. Was nun den Nationalstaat angeht, so zeigt sich, dass in Deutschland die Identifikation mit diesem eine der niedrigsten aller 34 Staaten ist, die wir verglichen haben. In Österreich und der Schweiz ist sie etwa deutlich höher. Gleichzeitig weist diese Dimension die geringste Korrelation mit den anderen Faktoren auf. Das heißt, es gibt Staaten mit einem extrem niedrigen Zusammenhalt, wie etwa die südosteuropäischen Länder, die aber trotzdem ein hohes Maß an Identifikation mit ihrem Staat aufweisen. Und es gibt eben auch Länder wie Deutschland oder die Niederlande, die einen überdurchschnittlich hohen Zusammenhalt besitzen, wo die Identifikation mit dem Staat trotzdem niedrig ausfällt. Für den Zusammenhalt können also kleinere Einheiten entscheidend sein. Das erklärt auch den scheinbaren Widerspruch, dass viele Menschen eine Erosion des Zusammenhalts auf staatlicher Ebene feststellen, aber mit ihren persönlichen Beziehungen ganz zufrieden sind.
Österreich hat im Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten einen erbitterten Kampf um den Begriff Heimat erlebt: Wer sind denn die "Heimatmacher", also jene Akteure und Institutionen, die Zusammenhalt herstellen?
Auf einer analytischen Ebene stehen hier alle in der Pflicht. Es gibt das Böckenfördesche Diktum (nach dem Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde; Anm.), wonach der demokratische Verfassungsstaat die Voraussetzungen, von denen er abhängt, selbst nicht schaffen kann. So gesehen ist das eine bürgergesellschaftliche Aufgabe. Die zweite Ebene Ihrer Frage zielt auf die Deutungshoheit ab: Wer bestimmt, wer dazugehört und wer nicht? Hier geht es darum, wie viel Differenz lassen wir zu und wie viele Gemeinsamkeiten verlangen wir von Menschen, die zu uns kommen. Das muss immer wieder neu bestimmt werden, wobei eine Gesellschaft dafür sorgen muss, dass die zentripetalen Kräfte stets größer sind als die zentrifugalen. Da kann es schon sein, dass es nicht reicht, dass sich alle nur an die Gesetze halten. Persönlich habe ich damit Probleme. Wir brauchen geteilte Grundwerte, aber auch die Fähigkeit, mit Differenz umzugehen, statt diese nur passiv zu ertragen.
Derzeit wird nur über Verschärfungen diskutiert: Wir reden über Kopftuch, doppelte Staatsbürgerschaften und Pflichtenhefte für Zuwanderer.
Ja, dabei zeigt die Empirie, dass es praktisch keine Gruppe von Zuwanderern gibt, die sich in allen Bereichen abkapselt. Aber wir merken jetzt, und die Flüchtlingszuwanderung hat das noch verstärkt, dass wir mit einer rapide wachsenden Veränderungsgeschwindigkeit konfrontiert sind, die unsere Anpassungsfähigkeit herausfordert.
Und wird der neue, härtere Weg in der Integrationspolitik zu mehr Zusammenhalt führen?
Ich halte diese Debatte um kulturelle Differenz ehrlich gesagt für einen Popanz. Offensichtlich sind wir so gepolt, dass Ähnlichkeit uns beruhigt und Unterschiedlichkeit beunruhigt. Das halte ich für maßlos überschätzt. Es ist klar, dass es sich Politik nicht leisten kann, diese Debatte zu ignorieren, weil sie dann einfach von anderen instrumentalisiert würde. Es geht darum, genauer hinzuschauen, wo die tieferen Ursachen für das vorhandene Unbehagen liegen. Hier gibt es einen ökonomischen Aspekt - Stichwort wachsende Ungleichheit -, das andere ist die Frage, was aus unserem Gemeinwesen vor dem Hintergrund der Globalisierung und rasenden technologischen Veränderung wird. Beides diskutieren wir zu wenig und verstehen es auch nicht.
Welche Autoren helfen einem, unsere Welt am ehesten zu verstehen?
Wahrscheinlich ist da der Wirtschaftswissenschafter Thomas Piketty mit seiner Analyse von Ungleichheit keine schlechte Wahl. Was die großen Fragen angeht, würde ich Thomas Friedman empfehlen, insbesondere sein Buch "Thank you for being late". Hier geht es darum, wie sich unsere Welt entwickelt und ob wir die Kapazität haben, uns entsprechend schnell auf die rasanten Veränderungen einzustellen.
Stephan Vopel ist Direktor der Bertelsmann-Stiftung und zuständig für die Programme lebendige Werte sowie Deutschland und Asien. Studium der Soziologie, Sozialanthropologie und Geschichte in Bielefeld und Jerusalem.