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Kulturerbe im Konflikt

Von Martin Fritz

Gastkommentare
Martin Fritz ist Generalsekretär der Österreichischen Unesco-Kommission.
© eSeL.at / Lorenz Seidler

Die Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe verpflichtet nicht zur Beibehaltung diskriminierender Darstellungen. Im Gegenteil.


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Mehrfach führten in den vergangenen Wochen Veranstaltungen, die im österreichischen Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes stehen, zu Kontroversen. Dieses Verzeichnis wird auf der Grundlage des Unesco-Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes geführt.

Ziele dieses von 180 Staaten ratifizierten Abkommens sind "die Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes; die Gewährleistung der Achtung vor dem Immateriellen Kulturerbe der jeweiligen Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen; die Bewusstseinsförderung [...] und die internationale Zusammenarbeit und Unterstützung". In Österreich sind derzeit 157 Praktiken, Handwerke, Rituale und Ausdrucksformen verzeichnet, wobei das Spektrum von der Wiener Kaffeehauskultur bis hin zum Wissen der Bestatterinnen und Bestatter reicht.

Warum kam es zuletzt zu Beschwerden? Einmal in Vorarlberg, wo die Verbrennung der sogenannten Funkenhexen bereits seit längerem kontroversiell diskutiert wird, nicht zuletzt auch im Kontext der hohen Zahl an Femiziden in Österreich. In diesem Jahr kam dazu, dass in einem Ort eine Figur zur Verbrennung gewählt wurde, die als "Klimakleberin" bezeichnet wurde, was sogar eine Anzeige nach sich zog.

Wenige Tage später protestierte die Meldestelle Antirassismus-Arbeit Tirol gegen die Darstellung einer "Sklavengruppe" im Rahmen des Thaurer Faschingsumzugs: Eine Gruppe von Männern mit schwarzbemalten Körpern in Lendenschurzen wurde dabei in Ketten dargestellt und dabei auch noch ausgepeitscht.

In den Diskussionen zu diesen Praktiken wird hin und wieder behauptet, dass die Anerkennung einer Praxis als Immaterielles Kulturerbe eine Verpflichtung beinhalten würde, nichts an den tradierten Darstellungen oder Inhalten ändern zu dürfen.

Einmal abgesehen davon, dass wohl weder die Verbrennung einer "Klimakleberin" noch die Darstellung einer "Sklavengruppe" zum Traditionsbestand der beiden Faschingsveranstaltungen zählen dürfte, ist es auch nicht richtig, dass aus dem Unesco-Übereinkommen eine Musealisierungspflicht für tradierte Praktiken folgt. Ganz im Gegenteil, steht doch für das Übereinkommen das "lebendige Kulturerbe" ("living heritage") im Vordergrund und damit ein Kulturbegriff, für den Veränderung und Anpassung ebenso zentral ist wie die Weitergabe über Generationen.

Veränderungen von überlieferten Praktiken

Darauf aufbauend gibt es mittlerweile auch zahlreiche Beispiele für Veränderungen von überlieferten Praktiken, um diese in Einklang mit zeitgenössischen Realitäten und einem gewachsenen Verständnis für die Notwendigkeit der Überwindung historischer Diskriminierungsformen zu bringen: So verzichtet etwa die Funkenzunft Bludenz bereits seit mehr als zwanzig Jahren auf "Hexen", und auch in den Niederlanden finden sich mittlerweile - trotz unverminderter Unterstützung für den "schwarzen Piet" alternative Darstellungen der umstrittenen Schreckfigur, die nicht mehr die Stereotypisierung von People of Color reproduzieren.

Für die Unesco liegt dabei das Augenmerk immer auf zweierlei: Einerseits betonen die einschlägigen völkerrechtlichen Texte die wichtige Rolle der "Communities" sowohl für die Erhaltung wie auch für die Weiterentwicklung der jeweiligen Praxis, dies jedoch immer auch mit einem Blick auf andere Ansprüche, wie etwa das Recht, vor rassistischen Darstellungen geschützt zu werden.

Eigene Handlungs- und Denkmuster hinterfragen

Zweimal, beide Male in Belgien, führten derartige Kontroversen in den vergangenen Jahren zur Streichung von Elementen: Einmal wurde der Karneval von Aalst, dessen Umzug antisemitische Darstellungen beinhaltete, wegen dieser Inhalte von der internationalen Staatengemeinschaft aus den Listen entfernt, und ein anderes Mal zog Belgien aufgrund der Darstellungen des "Wilden" im Rahmen des Stadtfestes "Ducasse d’Ath" das Element selbst aus der Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit zurück.

Zum Anlassfall in Aalst nahm Ernesto Ottone Ramirez, beigeordneter Unesco-Generaldirektor für Kultur, mit deutlichen Worten Stellung, die auch für vergleichbare Kontroversen als Richtschnur gelten können: "The satirical spirit of the Aalst Carnival and freedom of expression cannot serve as a screen for manifestations of hatred. [...] These indecent caricatures go against the values of respect and dignity embodied by Unesco and are counter to the principles that underpin the intangible heritage of humanity."

Nun wurden zwar mit den Streichungen notwendige symbolische Akte geleistet, doch damit ändern sich die Praktiken noch nicht. Die Herausforderung geht also über die administrativen und politischen Reaktionen hinaus: Sie besteht darin, die Ausübenden in einen Prozess der Reflexion zu involvieren, der auch das Hinterfragen eigener Handlungs- und Denkmuster beinhaltet. Fachleute aus Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft sollten die Ausübenden zu dieser Reflexion anregen. Veranstaltungen, wie etwa die Podiumsdiskussion "Brauchtum und Gegenwart: Wie zeitgemäß ist die Funkenhexe?", die als Initiative einer Künstlerin am 29. März im Vorarlberg Museum stattfand, widmen sich aktiv den Problematiken, die mit den Beteiligten diskutiert werden. Wir begrüßen diese Initiativen und werden auch von unserer Seite mit den jeweiligen Verantwortlichen von Brauchtumsveranstaltungen in Vorarlberg und Tirol Kontakt aufnehmen. Schließlich bedeutet Wandel immer auch Auseinandersetzung.